FRIESENKONGRESS 2000 – 16. bis 18. Juni in Jever
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AG-Thema: „Die Chancen und Rolle der Friesen im Europa der Regionen“
PD Dr. Dirk Gerdes, Aurich/Heidelberg: Thesen zur Diskussion
- Die für die drei Frieslande typische Zwei- oder Mehrsprachigkeit und die damit verbundenen regionalkulturellen Muster sind heute nicht mehr nur in den Kategorien traditioneller Minderheitenpolitik von Interesse. Traditionelle Minderheitenpolitik berief und beruft sich auf Schutzrechte gegenüber egalitären/egalisierenden Mehrheitsinteressen; sie bleibt strukturell immer in der Defensive. Diese Defensive geht im postmodernen Kult der Differenz ins Leere: regionalkulturelle Besonderheit will „nach außen“ nicht verteidigt, sondern selbstbewußt und attraktiv inszeniert werden.
- Wenngleich sich nur die Nord-, West- und Saterfriesen als Minderheiten darstellen, gilt für alle drei Frieslande als Randregionen gleichermaßen: Eine regionalkulturelle Defensivmentalität verbindet sich insbesondere bei den regionalen Eliten in der Regel mit einem politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeitsbewußtsein, durch das regionalgesellschaftliche Energien nicht mobilisiert, sondern gelähmt werden.
- So wichtig Minderheitenschutz und „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ als Zivilisationsnormen bleiben mögen – ihr kultureller, politischer und wirtschaftlicher Stellenwert wird in Zukunft eher ab- als zunehmen: Wenn die Friesen sich im „Europa der Regionen“ Gehör verschaffen wollen, dann nicht mit den Instrumenten und Inhalten eines Politikverständnisses, das sich im Kontext herkömmlicher nationalstaatlicher (Wohlfahrts-)Politik ausbildete.
- Wenn das „Europa der Regionen“ nicht nur als eine unverbindliche Programmvokabel verstanden wird, dann bezeichnet dieser Begriff heute vor allem ein strukturelles Muster der Reorganisation von wirtschaftlicher und kultureller Macht, deren Dynamik durch politische Strukturreformen kaum noch eingefangen wird („Mehrebenenpolitik“). „Entstaatlichung“, Stärkung zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation und Netzwerkbildung sind dominante Strukturmuster dieser (globalen) Reorganisation von wirtschaftlicher und kultureller Macht. Sie reicht vom Netzwerk der „global cities“ (ohne „Hinterland“ und Bezug zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“) bis hin zu regionalen Netzwerken hochspezialisierter Unternehmen in einer sich nach dem Muster von „Silicon Valley“ regionalisierenden Weltwirtschaft.
- Die politischen Kapazitäten für eine stabile regionale Selbstorganisation entscheiden wahrscheinlich darüber, ob eine Region sich zu einem Knotenpunkt transnationaler Netzwerkbildung entwickeln kann oder durch die Maschen fällt. Solange „Region“, wie momentan im Nordwesten Deutschlands, nur als taktisches und territorial variables Instrument der Subventionseinwerbung für bestehende Gebietskörperschaften gesehen wird, wird jeder Regionszuschnitt für Europa „zu klein“ sein: Ostfriesland bzw. Ost-Friesland ebenso wie Weser-Ems.
- Ebensowenig darf Regionsbildung - um den Preis ihrer Irrelevanz für das „Europa der Regionen“ - nur als "traditionalistisches" Relikt und Abbild vormoderner Lebenszusammenhänge erscheinen oder verstanden werden. Regionsbildung ist ein kontinuierlicher gesellschaftlicher und politischer Verständigungsprozeß, in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständigen, regionsverträglichen Modernisierung und um transnationale Kommunikationsfähigkeit geht. Erleichtert wird diese Konsensbildung aber durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen. Regionale Identität aktualisiert sich im gemeinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines historisch-kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls.
7. Die drei Frieslande profitieren momentan mehr denn je von einer postmodernen Neugierde auf und Faszination durch regionalkulturelle Besonderheiten. Man sollte diese Neugierde nicht mit der Bereitschaft zu mildtätigen Spenden verwechseln. Wenn sich diese regionalkulturellen Besonderheiten nicht mit politischen und wirtschaftlichen Orientierungen zu einem aktiven Regionalbewußtsein und zu zukunftsfähigen Visionen von Regionalentwicklung verbinden, dann werden Friesenkongresse in absehbarer Zeit den rituellen Status von Vertriebenentreffen zu Pfingsten erreicht haben. Insofern haben wir es selbst in der Hand, unsere Rolle im Europa der Regionen zu finden und unsere Chancen zu nutzen.
Europa 1992: Regionen - was nun?
Arbeitskonferenz des Friesenrates, 22. September 1989, Landschaftshaus Aurich
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PD Dr. Dirk Gerdes: Europa 1992: Perspektiven des Friesenrates
I. Europäische Rahmenbedingungen
1. Seit der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) hat sich der Integrationsprozeß der Europäischen Gemeinschaft beschleunigt. Dieser Integrationsprozeß wird die Nationalstaaten nicht verschwinden lassen, aber weiter schwächen.
2. Die Kommission, der Europäische Rat/Ministerrat der Mitgliedsländer und das Europaparlament werden auch in der nationalen Politik verstärkt als Akteure auftreten.
3. Mit dieser Stärkung der supranationalen Ebene wird "Politik-Machen" noch komplizierter, in sich widersprüchlicher und bürokratischer: Beamte und Politiker auf den drei Ebenen der Länder/Provinzen, der nationalen Regierungen und der EG sind zur Kooperation gezwungen, wenn sie etwas bewegen wollen/sollen. Das wird nur in jeweils eng abgegrenzten Politikbereichen möglich sein.
4. Die schon Ende der 70er Jahre eingeleitete Entwicklung, daß sich fast alle Regierungen Europas von einer aktiven wohlfahrtsstaatlichen Politik zurückziehen (Neo-Liberalismus), wird sich mit zunehmender Integration verstärken.
5. Mit diesem Rückzug verändert sich Politik: Es sind nicht mehr die Regierungen, die sich mit eigenen Programmen gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen versuchen (aktive Politik), es sind die vielfältigen gesellschaftlichen Interessengruppen, die miteinander und gegeneinander um politische Entscheidungen und finanzielle Mittel kämpfen.
6. Im Geflecht von Politik und Bürokratie auf Länder-/Provinz-, Nationen- und Europa-Ebene werden nur solche Interessengruppen Gehör finden, die auf allen Ebenen gut organisiert sind und ihre Interessen politisch gut "verkaufen" können.
II. Die Ausgangslage für die drei Frieslande
1. Die Perspektive einer beschleunigten europäischen Integration birgt für die drei Frieslande Chancen und Gefahren zugleich.
2. Die Chancen liegen insbesondere in einer zunehmenden Angleichung der Interessen der drei Frieslande gegenüber ihren nationalen Regierungen und gegenüber der Europäischen Gemeinschaft. Die Unterschiede im Selbstverständnis der drei Frieslande werden heute durch diese Angleichung der Interessen überdeckt:
a) Im sprachlich-kulturellen Bereich geht es heute nicht mehr nur um die Verteidigung der friesischen Sprache in West- und Nordfriesland. Das ostfriesische Platt ist als Regionalsprache Ostfrieslands, die deutlich vom übrigen niederdeutschen Sprachraum abzugrenzen ist, ebenso in seinem Fortbestand bedroht wie das Friesische. Alle drei Regionen sind "Zwei- bzw. Drei-Sprachen-Länder", wobei die jeweilige Regionalsprache als "lesser used language" gelten kann. Die Existenz dieser Regionalsprachen ist als Ausdruck für kulturelle Besonderheiten der drei Frieslande anzusehen, die durch die Geschichte, durch Traditionen und insbesondere durch eine eigenständige Lebensweise ihrer Bewohner begründet werden. Die europäische Integration wird die Bedrohung dieser kulturellen Identität verstärken.
b) Die Versorgung der drei Frieslande mit Einrichtungen moderner hochkultureller Infrastruktur (Universitäten, Hochschulen, Bibliotheken, Theatern, moderne Kommunikationsmedien etc.) ist gegenüber den Standards der nationalen Zentren unzureichend. Dieser Rückstand wird sich im Prozeß der europäischen Integration verstärken (verschärfte Konkurrenz der europäischen Zentren). Dies hat negative Auswirkungen in folgenden Bereichen:
- Weiter zunehmender "brain-drain": Die intellektuelle Elite der drei Frieslande geht den Regionen durch Abwanderung verloren (Bildungswesen).
- Schwindendes Regionalbewußtsein: Die Bevölkerung wird zunehmend "von außen" mit hochkulturellen Angeboten versorgt. Das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl orientiert sich auf die nationalen/internationalen Zentren, das regionalkulturelle Bewußtsein sinkt zur Folklore ab (Medien).
- Fehlende Innovationsimpulse: Universitäten, Forschungseinrichtungen und Fachhochschulen haben unmittelbare Auswirkungen auf das kulturelle und wirtschaftliche Leben ihres Umlandes. Sie sind Innovationszentren für sozialen Wandel. Fehlen diese Einrichtungen in einer Region, dann findet dort nur noch Innovation und sozialer Wandel "aus zweiter Hand" statt. Im Innovationswettlauf der großen nationalen Zentren können die Randregionen nicht mithalten (Wissenschaft).
c) Alle drei Frieslande sind politisch und wirtschaftlich Randregionen. Sie werden durch die forcierte Integration, die zunächst die nationalen Zentren in engeren Kontakt zueinander bringt, noch stärker an den Rand gedrückt werden, wenn sie es nicht schaffen, ihre (gemeinsamen) Interessen deutlich gegenüber den nationalen Regierungen und in Brüssel zu artikulieren, und ihre wirtschaftliche Randlage zumindest zum Teil durch interregionale Kooperation zu kompensieren.
III. Perspektiven des Friesenrates
1. Der Friesenrat sollte das (im Blick auf die Vergangenheit) Trennende zurückstellen und sich auf die von ihm repräsentierten Interessen der drei Regionen konzentrieren. Diese Interessen sind - siehe II. - nicht nur kultureller, sondern auch wirtschaftlicher und politischer Art.
2. Das politische Schlagwort von der Entwicklung des "endogenen Potentials" verdrängt heute eine aktive Regionalpolitik "von oben": Den regionalen Eliten wird die Aufgabe gestellt, selbst nach Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Region zu suchen. Gleichzeitig wird Politik, auch unter dem Einfluß der europäischen Integration, mehr und mehr zu einem Kampf von Interessengruppen um politische bzw. bürokratische Entscheidungen (vgl. I.). Beide Tendenzen zusammengenommen verlangen vom Friesenrat eine Umorientierung "nach außen". Er sollte sich an die Regeln des politischen Geschäfts anpassen und selbst zu einer Interessenvertretung werden.
3. Die Zusammenfassung der drei Frieslande im Friesenrat ist mehr als nur die Addition der darin vertretenen Interessen dreier Regionen:
"Von außen" gesehen hat der Friesenrat als übernationaler/interregionaler Zusammenschluß mehr Gewicht und Prestige als die isolierten Aktionen und Forderungen der jeweiligen regionalen Körperschaften. Dieses Prestige beruht zum größten Teil auf einem politischen Mythos, der alten Kulturregionen heute in der politischen Willensbildung immer noch einen festen Platz sichert. Diesen kulturellen Mythos sollte der Friesenrat substantiell nutzen, indem er das schlechte Gewissen der Öffentlichkeit angesichts zunehmender kultureller Uniformierung auf die wirklichen, nämlich wirtschaftlichen und politischen Ursachen dieser Bedrohung kultureller Vielfalt lenkt. Diese Bedrohung kann mit einer auf Kultur beschränkten Politik nicht mehr gemeistert werden (vgl. II).
4. Dem Friesenrat fehlt ein politisch-bürokratisch-organisatorischer Unterbau, der ihm eine politische Schlagkraft sichern könnte, wie sie z.B. die "Ems-Dollart-Region" oder die "Euregio" haben. Einen solchen Unterbau wird sich der Friesenrat nur schwerlich aufbauen können. Selbstbeschränkung und Konzentration auf wenige Felder der politischen Willensbildung sind daher notwendig.
5. Die Felder, in denen der Friesenrat seine Stimme mit Gewicht einsetzen könnte, sollten direkt oder indirekt auf die Verteidigung der kulturellen Eigenständigkeit und Lebensfähigkeit der drei Regionen bezogen sein:
a) Regionalkultur und Sprache
Offensive Forderungen nach staatlicher und europäischer Förderung der friesischen Regionalsprachen (inkl. ostfr. Platt!). Zusammenarbeit mit transnationalen Gruppierungen regionalistischer Bewegungen, die Sprache und Regionalkultur nicht als isoliertes bzw. nur traditionales Faktum sehen. Aufwertung des Prestiges von Regionalsprache und -kultur in der Bevölkerung der drei Regionen durch Förderung der Zweisprachigkeit/Dreisprachigkeit auch im öffentlichen Leben (Medien, Schriftverkehr, Ortsschilder). Gezielte Professionalisierung regionalkultureller Aktivitäten und Selbstdarstellung, um einer Folklorisierung vorzubeugen.
b) Wissenschaft, Bildung, Medien
Aufwertung regionaler Informationen und Verbesserung intraregionaler Kommunikation durch Einrichtung regionaler Kommunikationsmedien. Verstärkung der interregionalen Kommunikation zwischen den drei Frieslanden und mit anderen Randregionen Europas. Aufwertung vorhandener oder Schaffung neuer tertiärer Bildungseinrichtungen (Hochschulen), Ansiedlung staatlicher Forschungseinrichtungen, die auf die Bedürfnisse der Region zugeschnitten sind. Verbesserung schulischer und beruflicher Ausbildung im Interesse der Region, nicht als Vorbereitung zum "Export" von Facharbeitern. Förderung regionaler Orientierungen im allgemeinbildenden Schulwesen (regionalsprachlicher Unterricht, Regionalkultur und Regionalentwicklung als Unterrichtsgegenstände).
c) Politik und Wirtschaft
Offensive Verteidigung der Sonderinteressen der drei Regionen (im Sinne von II) auf allen Ebenen politischer Willensbildung durch Einbindung der gewählten Abgeordneten der drei Frieslande in den Friesenrat. Aufbau einer Interessenvertretung auf europäischer Ebene in Zusammenarbeit mit anderen randständigen Kulturregionen. Einrichtung eines regionalwirtschaftlichen Beirates aus Vertretern der Wirtschaftsverbände und -kammern der drei Frieslande zur Formulierung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen des friesischen Küstenraumes. Einrichtung eines Ständigen Sekretariats des Friesenrates zur Koordination und Abwicklung laufender Aktivitäten. Aufwertung der Friesenkongresse durch Einrichtung und Fortschreibung eines "Friesischen Weißbuches" mit aktuellen politischen Forderungen im Zwei-Jahres-Rhythmus und entsprechender Öffentlichkeitsarbeit.