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"Verhalten" oder "Handeln"? (1984, Kontextanalyse)

 

Dirk Gerdes

Verhalten oder Handeln?

Thesen zur sozialwissenschaftlichen Analyse sozialer Bewegungen

In: Falter/Fenner/Greven (Hrsg.): Politische Willensbildung und Interessen­vermittlung. Opladen 1984, S. 645-654 (vergriffen, hier leicht überarbeitet)

 

1. Vorbemerkung

 

Die ohne Zweifel von gewichtigen Erfolgen gekennzeichnete sozialwissenschaftliche Suche nach rational erklärbaren "Gleichförmigkeiten" in modernen Industriegesellschaften ist eng verbunden mit der seit Comte, Marx, Weber und Durkheim(1) wiederholt beschriebenen Erweiterung des Bereichs gesellschaftlich institutionalisierter und standardisierter rationaler Handlungsorientierungen. Hatten die "Klassiker" diesen Prozess noch vorwiegend -  wenn auch in unterschiedlichen Fassungen - als spannungsgeladene Dialektik von intentionalem Handeln konkreter gesellschaftlicher Akteure und zweckrationaler Vereinheitlichung institutionalisierten Verhaltens, von Weberscher Freiheit und Hörigkeit, verstanden, so trat der voluntaristische Handlungsaspekt sozialen Wandels im mainstream soziologischer Theoriebildung zunehmend hinter die Betonung kausal erklärten "adaptiven Verhaltens" (Naschold 1970: 46) zurück. Das Interesse für Handlungsgründe wich der Erforschung von Verhaltensursachen (vgl. Graumann 1980). Im abstrahierenden Sog soziologischer Theorieproduktion wurden zunächst die "Motive" den "Zwecken", schließlich die "Zwecke" den "Funktionen" einverleibt. Aus dem "die Soziologie begründenden Glauben an die Nicht-Kontingenz der kontingenten Entwicklung der Gesellschaft" (Rammstedt 1978: 29/30) speiste sich einerseits die analytische Pluralisierung des Begriffs "soziale Bewegung", andererseits seine Umformung zu einem Epiphänomen des nur noch theoretisch gefassten "sozialen Wandels".

 

Gestützt wurde dieser Trend durch die schon klassische Erkenntnis von der "Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen" (Schluchter 1981: 611), die Schumpeter in pointiertester Weise zu dem Satz verdichtete, "dass die Personen und Chöre, die im Drama der Geschichte auftreten, fast nie verstehen und noch weniger wollen, was tatsächlich geschieht und über alle Köpfe hinweg von der unerbittlichen Logik der Dinge durchgesetzt wird" (zitiert nach Eisermann 19743: 379). Nachdem insbesondere Marxisten und Strukturfunktionalisten bei teilweiser Konvergenz(2) bis in die jüngste Vergangenheit um die Entschlüsselung dieser „Logik“ konkurrierten und dabei die Fragestellungen der dominanten Forschungsprogramme (Lakatos) vorgaben, ist heute vermehrt Unsicherheit zu erkennen. Kritikern sozialwissenschaftlicher Aufklärungsansprüche fällt es nicht mehr schwer, den wachsenden Bereich des scheinbar "Unerklärt-Unerklärlichen" (Eisermann 19743: 357) gesellschaftlichen Wandels gegenüber dem schwindenden Bestand prognosesicheren Wissens(3) auszuspielen: Die dominanten Konstrukte sozialen Wandels tun sich schwer, soziale Bewegung(en) zu erklären.

 

Ein Blick in führende soziologische Zeitschriften macht deutlich, dass die Verunsicherung durch das "Neue" in Politik und Gesellschaft auch in die diskursiven Bastionen paradigmatischer Perspektivengewissheit eingebrochen ist.

 

 

2. Die aktuelle Diskussion

 

Diese Verunsicherung konkretisiert sich in drei Topoi der aktuellen Diskussion:

a) In der Klage über die Diskrepanz zwischen dem zur empirischen Routine verfestigten Interesse an Variablen, die im Kontext strukturalistischer Gesellschaftstheorien - abgeleitet beispielsweise aus dem Basistheorem "funktionaler Differenzierung" - als Leitvariablen identifiziert werden, und der (abnehmenden) analytischen Validität dieser Variablen für die Erfassung gesellschaftlicher Wandlungsphänomene (vgl. u.a. Küchler 1981: 432; Barnes/Kaase (Hrsg.) 1979:13).


b) In der Feststellung einer beschleunigten Ausdifferenzierung (sub-)kultureller "Sinnprovinzen" (Schütz), die die funktionalistische - und marxistische - Unterstellung einer engen Korrespondenz zwischen (den dominanten Konstrukten) gesellschaftlicher Arbeitsteilung ("Systemintegration") und empirisch vorfindlichen Wertorientierungen ("Sozialintegration") relativieren bzw. infrage stellen (vgl. u.a. Inglehart 1983: 140; Hirsch/Roth 1980: 24).


c) In der Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung "lebensweltlich"-interaktionstheoretischer Ansätze sowohl in der Theoriediskussion als auch in der empirischen Forschung: In der Theoriediskussion durch Betonung der kommunikativ-interaktiven Komponente der Strukturierung von "Lebenswelten"(4) (vgl. Bernstein 1979: Teil 2 u. 3; Berger/Luckmann 1980); in der empirischen Forschungspraxis durch Hervorhebung von Validitätsfaktoren gegenüber den szientistisch geprägten Reliabilitätskriterien (vgl. Mohler 1981; Kriz 1981; Küchler 1980, 1981).

 

 

3. Mainstream und "Neue soziale Bewegungen"

 

Obwohl sich in diesen Topoi die Konturen eines neuen Forschungsprogramms abzeichnen, dominiert in der Erforschung der "Neuen sozialen Bewegungen" bis heute ein funktionalistisches Paradigma sozialen Wandels, das gesellschaftlich relevante Verhaltensänderungen auf den Wandel sozialstrukturell-demographischer Verhaltensdispositionen zurückführt. Das von diesem Paradigma geprägte Verhaltensmodell geht von einem dreistufigen Erklärungsmodell aus, in dem konkrete politische Verhaltensakte aus gesellschaftlich-politischen Wertorientierungen und diese wiederum aus strukturellen Sozialmilieu-Variablen deduziert werden (vgl. u.a. Bürklin 1981; Müller-Rommel/Wilke 1981). Umstritten ist lediglich die Gewichtung situativer Faktoren (z. B. perzipierte issue-Kompetenz und Kandidatenpräferenz in Wahlen), die Anerkennung einer (beschränkten) Eigendynamik politischer Wertorientierungen gegenüber sozialstrukturell abgeleiteten Verhaltensdispositionen und die Dimensionalität der determinierenden cleavages. Gemeinsam ist allen Ansätzen ein explizites oder implizites Verständnis des cleavage-Konstruktes als eines "strukturelle(n) Dispositionsbegriff(es)", der dazu beitragen soll, "die Handlungs-bereitschaft in strukturell vorgeformten Situationen zu verstehen" (Pappi 1979: 465).

Sollen mit diesem Konstrukt Aussagen über soziale Bewegungen gemacht werden, so ist zu fragen, ob die Prämisse tragfähig ist, dass das Handeln sozialer Bewegungen hinreichend aus dem Kontext "strukturell vorgeformter Situationen" heraus zu verstehen sei.

 

 

4. Vom Sinn strukturalistischer Erklärungsversuche der "Neuen sozialen Bewegungen"

 

Bei der Überprüfung dieser Prämisse stößt man in der Literatur überwiegend auf ein verdinglichtes (oft naiv begriffsrealistisches) Verständnis struktureller Variablen. Vergessen wird dabei, dass sozialwissenschaftliche Aussagen über die "Tiefenstruktur" (Pappi) der Gesellschaft nichts anderes als Sekundärabstraktionen historisch gewachsener Sinndeutungen gesellschaftlicher Prozesse darstellen (vgl. dazu Berger/Luckmann 1980: 95; Bernstein 1979: 243). Der historische Hintergrund des heute dominierenden cleavage-Konstruktes wird in dem folgenden Zitat deutlich:


"Die Wahl- und Parteiensoziologie hat sich ganz überwiegend auf ein Entwicklungsmodell von Parteiensystemen geeinigt, das Parteien als Reflexe und Repräsentanten zentraler, umfassender und institutionalisierter Konflikte auffasst, die vor allem die Phase der Massenmobilisierung in die Politik geprägt haben. In diesem Sinne repräsentieren politische Parteien in den westlichen Industrieländern die 'eingefrorenen' Konflikte und Trennungslinien etwa um die Jahrhundertwende." (Kaase 1982: 184)

 

Wenn diese, in einem historischen Prozess vergegenständlichte, d.h. institutionalisierte und damit durchstrukturierte Konfliktkonstellation durch das Auftreten "Neuer sozialer Bewegungen" heute "aufzutauen" scheint, dann kann eine Analyse dieser Bewegungen im Horizont überkommener Strukturkategorien lediglich den "Abtauprozess" gewachsener Strukturen beleuchten, sagt aber nichts über den Prozess der Formierung neuer Trennungslinien aus.

 

Konkret heißt das: Die Analyse der "Neuen sozialen Bewegungen" in Kategorien der berufsstrukturellen Schichtung unseres Beschäftigungssystems, des Bildungsgrads in der Abstufung und den Inhalten des existierenden Ausbildungssystems, des Lebensalters im Sinne einer numerischen Abstufung oder im Sinne zeitgeschichtlich generalisierter individueller Lebenszyklen, der traditionellen Stadt-Land- bzw. Zentrum-Peripherie-Differenz und der statistisch aggregierten Konfessionszugehörigkeit "erklärt" ein noch von konkreten Motiven dominiertes Konfliktphänomen in der abstrakten Zweck- und Funktionsbegrifflichkeit der bisher dominanten gesellschaftlichen Reproduktions- und Organisationsrationalität. Verdrängt wird dabei, dass "fast alle Parteien (...) ihren Ursprung in abweichendem politischen Verhalten gegenüber dem bestehenden Normen- und Verhaltensregelsystem der Zeit" (v.Beyme 1982: 25) haben: Heute schon eine "strukturelle Verortung" der "Neuen sozialen Bewegungen" vorzunehmen, muss also ebenso unzulänglich bleiben, wie es auf der Basis der Erfahrungen der ersten 70 Jahre des 19. Jahrhunderts unmöglich war, die dominanten cleavages des 20. Jahrhunderts zu prognostizieren. Cleavage-Konstrukte sind wissenschaftliche Rationalisierungen bereits verfestigter Verhaltensdispositionen. Für die Analyse von Parteiensystemen und institutionell durchstrukturierten Formen gesellschaftlicher Interessenverarbeitung geben sie eine wichtige Orientierungshilfe. Sie haben jedoch einen nur begrenzten analytischen Wert für die Erfassung offenkundig noch kontingenter Interaktionsprozesse.

 

Entgegen ihrem überwiegend objektivistischen Selbstverständnis sind strukturanalytische Erklärungsversuche der "Neuen sozialen Bewegungen" somit primär als Versuch zu begreifen, in den Prozess der Formierung neuer Trennungslinien strukturierend, nämlich sinngebend, einzugreifen - dies in Fortsetzung einer im 19. Jahrhundert (vgl. Rammstedt 1978: Teil I) installierten Tradition, der auf Seiten der "neuen Bewegungen eher ein Bruch mit traditionellen Formen des 'Theorieverlangens'" (Evers/Szankay 1981: 48) gegenübersteht. Es verwundert dabei wenig, wenn dieser Bruch, gipfelnd im Vorwurf der "Kolonialisierung der Lebenswelt", marxistische wie nicht-marxistische Theorieproduktion gleichermaßen betrifft (vgl. auch Bergmann 1981: 53).

 

5. Soziale Bewegungen zwischen Lebenswelt und System: Ein kontextanalytischer Ansatz

 

Eine größere analytische Distanz und zugleich eine verbesserte empirische Validität verspricht ein Forschungsprogramm, das nicht auf eine intellektuelle Antizipation der aus dem Bewegungsprozess herauswachsenden Strukturmomente drängt, sondern sich der, wenngleich komplexeren, Untersuchung der kontextuellen Prozessfaktoren widmet, also "die Erkenntnis aus der Bewegung, statt umgekehrt die Bewegung aus der Erkenntnis ableite(t)."(4)


Das folgende Schaubild versucht, diese Faktoren in einem kontextanalytischen Prozessmodell(5) zu verorten, das in seinen graphisch hervorgehobenen Partien zugleich auf die wichtigsten Forschungsdesiderate hinweist. Die modellhafte Darstellung der vielfältigen Rückkopplungen zwischen – einerseits – systemisch "objektivierten" und – andererseits – lebensweltlich kontingenten Handlungskontexten unterstreicht die Notwendigkeit, über die "Wirkungen" struktureller Faktoren auf soziales Verhalten(6) hinaus auch die Implikationen sozialen Handelns für die Veränderung von Strukturdaten, also Reproduktion und Produktion sozialer Strukturen gleichermaßen zu erfassen:


"Objectively specified conditions described at the structural level do not furnish a full understanding of why people are drawn together in social movements. A full account must also be given of the impact of these conditions on the people exposed to them and how they interpret them and respond to them." (Wilson 1973: 67)

 

Schaubild: Soziale Bewegungen zwischen Lebenswelt und System -
Prozessfaktoren der Genese und strukturellen Integration sozialer Bewegungen

 

 

 Die "Antwort" sozialer Bewegungen auf strukturelle Zwänge des sozialen Wandels und ihre systemisch institutionalisierten Verhaltenskorrelate ist erst in zweiter Linie auf der Ebene zweck- und wertrational durchstrukturierter neuer Handlungsorientierungen zu suchen. Diese sind eventuelles Ergebnis, nicht aber bewegende "Substanz" der Interaktionen sozialer Bewegungen mit ihrem systemischen Umfeld.

 

Reduziert man die Komplexität des obigen Prozessmodells nach dem Muster der weiter oben referierten Erklärungsversuche, so wird aus der Ableitungstrias Sozialstrukturwandel ---> Wandel politischer Wertvorstellungen ---> verändertes (Wahl)Verhalten ein interaktions- und handlungstheoretisch "umgedrehtes" empirisches Forschungsprogramm:

Das Gravitationszentrum sozialer Bewegungen ist in lebensweltlichen Handlungskontexten, in den "Ereignissen vor Ort", zu suchen, dort also, wo abweichende Meinungsbildung und "erlebnisbestimmtes"(7) Gruppenhandeln an konkrete Interaktionen und Betroffenheit gebunden sind.

Aus dieser, durch eigene Forschungserfahrungen abgestützten forschungsstrategischen Vorentscheidung lassen sich die folgenden Thesen begründen:

 

6. Thesen zur kontextuellen Erforschung sozialer Bewegungen


a) Das dominante handlungstheoretische Paradigma zweckrationalen Verhaltens kann aus dem Modell strukturell verfestigter Handlungskontexte (Beispiel: "Parteien- und Verbändestaat") nicht ohne weiteres in die Handlungskontexte sozialer Bewegungen hineinprojiziert werden. Auszugehen ist von einem empirischen Kontinuum zwischen einerseits hochabstrakt generalisierten, institutionell durchstrukturierten systemischen und andererseits lebensweltlich-konkreten, im Extrem rein situativen Handlungskontexten. Soziale Bewegungen sind je nach dem Stand ihrer programmatischen und organisatorischen Durchstrukturiertheit in diesem Kontinuum zu verorten.

 

b) Das Eindringen sozialer Bewegungen in die institutionalisierten Kanäle politischer Interessenartikulation und -aggregation ist als interaktiver und symbolischer Vermittlungsprozess zwischen den unterschiedlichen Realitäts- und Rationalitätsebenen dieser Handlungskontexte zu erfassen.

 

c) Soziale Bewegungen sind in ihren Anfangsstadien lernfähiger als Institutionen – und auch lernabhängiger. Der einseitigen Festlegung institutionell eingebundener Akteure auf zweckorientierte Verhaltensrepertoires steht die Dialektik von "Tun" und "Denken" (vgl. Berger/Luckmann 1980: 98) bei sozialen Bewegungen gegenüber: Zwischen der ideologisch durchrationalisierten abstrakten Zweckbestimmung einer sozialen Bewegung und der in mehr oder weniger spontaner kollektiver Willensbildung fortgeschriebenen interaktiven Konkretisierung von Zwecken gibt es Rückkopplungen, aber kein einseitiges Determinationsverhältnis.
Die zunehmende Determination der kollektiven Willensbildung einer sozialen Bewegung durch abstrakte Zweckbestimmungen indiziert deren beginnende strukturelle Integration in systemische Handlungskontexte: Aus der Bewegung wird eine Interessengruppe und/oder eine Partei. "Verweigert" sie sich oder verfehlt sie diesen Weg, so kommt sie allenfalls in subkultureller Marginalität oder in lebensweltlicher Desintegration zur Ruhe.

 

d) Soziale Bewegungen werden umso stärker von Ereignissen (statt von Programmen) geprägt, je weniger sie zu institutionalisierten Kanälen gesellschaftlicher und politischer Interessenvermittlung Zugang finden. Mangelhafte Partizipationschancen verstärken das Charakteristikum situativer "Unberechenbarkeit" sozialer Bewegungen. Die "Radikalisierung" sozialer Bewegungen ist das Resultat verallgemeinerter Erfahrungen aus einseitig - institutionell - vorprogrammierten Interaktionen, in denen die Bewegungsanhänger lediglich als Objekte systemischer Integrationsstrategien - seien sie normativ, utilitaristisch oder repressiv - wahrgenommen werden.

 

e) Die programmatisch und organisatorisch durchstrukturierten Kontaktflächen sozialer Bewegungen mit ihrem systemischen Umfeld dürfen nicht mit der "Substanz" der gesamten Bewegung verwechselt werden. Ist eine soziale Bewegung nur noch "Partei", hört sie auf, "Bewegung" zu sein (vgl. Rammstedt 1978: 167 ff). Auf dem Weg dorthin kann bei einer Bewegung nicht von "Eliten", sondern bestenfalls von Kommunikationsspezialisten gesprochen werden. Sie sind "zuständig" für die zweck- bzw. wertrational polierte Oberfläche der Selbstdarstellung sozialer Bewegungen nach außen, die die mangelnde programmatische und organisatorische Vereinheitlichung der Bewegung im Inneren lediglich überdeckt, aber nicht kompensiert.

 

f) Die Handlungsmotive von Mitgliedern sozialer Bewegungen lassen sich nur in wenigen Handlungskontexten auf das abstrakte Niveau von Zweckdefinitionen umfassender (ideologischer) Aussagensysteme(8) transponieren. Erwartet wird diese Selbstdarstellung von ihnen insbesondere dort, wo sie zum Objekt theoretisch-wissenschaftlicher Analysen oder systemischer Integrationsstrategien normativer Prägung werden. Dem stehen Handlungskontexte gegenüber, in denen sich das interaktive Moment spontaner Konfliktereignisse in den Vordergrund drängt: Hier wird über "Zwecke" situativ entschieden. Der lebensweltliche Bezug bleibt gleichwohl der Plausibilitätstest auch für die abstrahierenden Symbolisierungen, mit denen sich die Kommunikationsspezialisten einer Bewegung nach außen verständlich machen und nach innen mit Orientierungsangeboten profilieren können - dies zumindest so lange, wie die Bewegung in Bewegung bleibt, die Entscheidung zwischen Zerfall, (Selbst)-Ausgrenzung und interessenpolitischer Integration noch offen ist.

 

g) Sozialwissenschaftler sind aufgrund ihrer wissenschaftlichen Sozialisation geneigt, die im Dialog mit den Kommunikationsspezialisten der Bewegung geprägten Symbolisierungen als "Zwecke" sozialer Bewegungen festzuschreiben. Dies begründet eine Forschungspraxis, die in ihren empirischen Aussagen nur das Ausmaß der durchschnittlichen individuellen Akzeptanz von kontextübergreifenden programmatischen Handlungsorientierungen erfasst. Deren lebensweltliche und ereignisspezifische Bedeutung, ihr Stellenwert in der Motivausstattung der konkret Handelnden und ihre in interaktiven Lernprozessen sich durchsetzende Variation und Revision werden vernachlässigt oder bleiben gänzlich unthematisiert.

 

h) Im kommunikativen Regelkreis gesellschaftlicher Interessenverarbeitung tragen Sozialwissenschaftler so dazu bei, konkrete Bedürfnisse und Erfahrungen auf abstrakte Interessen und Werte zu reduzieren, soziale Bewegungen mit strukturell verfestigten Interessengruppen zu verwechseln. Andererseits helfen sie, aus Bedürfnissen und Erfahrungen gesamtgesellschaftlich erst kommunizierbare Interessen und Werte zu destillieren, Lebenswelt und System in Kontakt zu bringen. Dies ist eine Ambivalenz, zu der Selbstreflexion gefordert ist - eine Selbstreflexion, die die bisher überwiegend abstrakte Wahrnehmung sozialer Bewegungen als funktionalisierte Impulsgeber in einer "erstarrte(n) Zielfindungsdiskussion" (v.Beyme 19805: 90) politischer Systemeliten nicht stillschweigend schon in ihren forschungsstrategischen Prämissen akzeptiert.

 

Anmerkungen

1) Für eine hier nicht zu leistende Vertiefung und Differenzierung vgl. u.a. Rammstedt 1978, Teil I und Rosenmayr 1981, Abschnitt II.

2) Vgl. z.B. die typische Aussage Offes, dass der "Entstehungsvorgang politischer Themen nicht als sinnvolles Handeln oder als interessenrationale Strategie irgendeines Akteurs zu begreifen" sei (Offe 1975: 160).

3) Vgl. hierzu unter dem spezifisch marxistischen Aspekt der Dialektik von Theorie und Praxis, "sozialem Wissen" und "sozialer Bewegung" (hier weiterhin im traditionellen Singular!) den sehr lesenswerten Aufsatz von Evers/Szankay 1981.

4) Über den ideengeschichtlichen bzw. philosophischen Hintergrund der "Lebenswelt"-Begrifflichkeit, insbesondere auch über ihre, im vorliegenden Kontext gerade vermiedene Nähe zur Ontologie Husserls, informiert Bergmann 1981.

5) In dieses Modell fließen v.a. Anregungen aus Rammstedts Werk über "Soziale Bewegung", aus der wissenssoziologischen Arbeit von Berger/Luckmann und aus den Diskussionen v.a. der letzten KZfSS-Jahrgänge ein. Für eine ausführliche Ausarbeitung und forschungspraktische Umsetzung dieser Gedanken am Beispiel der Analyse regionalistischer Bewegungen in Westeuropa vgl. die Habilitationsschrift des Verfassers (1982).

6) Das generelle Übergewicht dieses Erklärungstypus zeigt sich besonders deutlich in der knappen "Zwischenbilanz" zur neueren Bewegungsliteratur bei K.-W. Brand 1982.

7) Zur Dichotomisierung von "erlebnis-" und "wissensbestimmt" vgl. Schluchter 1980: 124 ff. Parallelen zu dieser Dichotomisierung finden sich in der an Gorz' "Abschied vom Proletariat" (Frankft./M. 1980) anschließenden Dualisierung zwischen "formellem" und "informellem" Sektor moderner Industriegesellschaften (vgl. insbesondere Huber 1980).

8) Diese These richtet sich auch gegen Rammstedts Aussage, der soziale Bewegungen in ihrer reifen Entwicklungsphase von einem "Gegenbild zum sozialen Ganzen, eine(r) Ideologie" (Rammstedt 1978: 132) motiviert sieht. Die z.T. mühseligen und "aufgesetzt" wirkenden Versuche Touraines, im theoretisierenden Diskurs seiner sociologie permanente die zutage geförderten Motivkomplexe kleiner Teilgruppen einer Bewegung auf eine gesamtgesellschaftliche Reflexionsebene zu heben ("conversion"), unterstreichen den empirischen Gehalt der vorliegenden These (vgl. zuletzt: Touraine, Dubet et al. 1981). Gestützt wird sie auch durch die Aussage M. Mann's (1970: 435), dass "only those actually sharing in societal power need develop consistent societal values."

 

Literaturverzeichnis

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Bergmann, W., Lebenswelt, Lebenswelt des Alltags oder Alltagswelt? Ein grundbegriffliches Problem "alltagstheoretischer" Ansätze. In: KZfSS 33/1981, S. 50 ff

Bernstein, R.J., Restrukturierung der Gesellschaftstheorie. Frankfurt/M. 1979 (Original 1976)

v. Beyme, K., Interessengruppen in der Demokratie. 5., völlig umgearbeitete Auflage, München 1982

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Brand, K.-W., Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Eine Zwischenbilanz. Opladen 1982

Bürklin, W.P., Die Grünen und die "Neue Politik". Abschied vom Dreiparteiensystem? In: PVS 4/1981, S. 359 ff

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Evers, A./Szankay, Z., Das gerissene Band - Überlegungen zum neueren Verhältnis von sozialem Wissen und sozialer Bewegung. In: Prokla 43/1981

Gerdes, D., Regionalismus als soziale Bewegung. Zur Rekonstruktion regionalistischer Handlungskontexte: Westeuropa, Frankreich, Korsika. Habilitationsschrift, Heidelberg, November 1982 (Überarbeitete Veröffentlichung: Regionalismus als soziale Bewegung: Westeuropa, Frankreich, Korsika - Vom Vergleich zur Kon­textanalyse. Mit einem Vorwort von Thomas Luckmann. Frankfurt/New York: Campus, 1985)

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Hirsch, J./Roth, R., "Modell Deutschland" und neue soziale Bewegungen. In: Prokla 40/1980

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