50 Jahre Ostfriesen-Zeitung: „Zukunftswerkstatt Ostfriesland“
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Die Zukunft Ostfrieslands im Europa der Regionen
Thesen zur Diskussion (22.05.2001)
1. Der Begriff „Europa der Regionen“ bezeichnet heute vor allem ein strukturelles Muster der Reorganisation von wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Macht.
Regionale wirtschaftliche Machtzusammenballungen („cluster“), die Stärkung wirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation sowie variable Netzwerkbildungen sind dominante Strukturmuster dieser Reorganisation. Sie reicht vom Netzwerk der „global cities“ (die kein „Hinterland“ mehr brauchen!) über Netzwerke hochspezialisierter Unternehmen in einer sich nach dem Muster von „Silicon Valley“ regionalisierenden Weltwirtschaft bis hin zu regionalen Netzwerken von Kultur- und Selbsthilfeeinrichtungen. Selbst staatliche Einrichtungen wie Schulen verselbständigen und vernetzen sich.
2. Politik und Verwaltung tun sich schwer, sich an die Dynamik dieser gesellschaftlichen Verselbständigungsprozesse anzupassen.
„Der Staat“ tritt den gesellschaftlichen Akteuren unterschiedlichster Reichweite (von Stadtteilinitiativen bis hin zu den „global players“) zunehmend als Dienstleister, Verhandlungspartner und Moderator gegenüber („Mehrebenenpolitik“), nicht mehr als allzuständige hierarchische Steuerungsinstanz. Eine kohärente staatliche Politik „aus einem Guß“ gehört der Vergangenheit an: die Flexibilität staatlicher „Mehrebenenpolitik“ ist Stärke und Schwäche zugleich (Beispiel: A31-Initiative).
3. Die politischen Kapazitäten für eine stabile regionale Selbstorganisation entscheiden vor diesem Hintergrund wahrscheinlich darüber, ob eine Region sich politisch Gehör verschaffen und zu einem Knotenpunkt nationaler und transnationaler/ europäischer Netzwerkbildung entwickeln kann oder durch die Maschen fällt.
Dementsprechend setzt regionale Strukturpolitik (nicht nur) in Niedersachsen spätestens seit Ende der 80er Jahre auf die kommunikative Vernetzung und dezentrale Selbstorganisation regionaler Akteure in Regionalkonferenzen. Die Stabilisierungsfunktion dieses Instruments wurde und wird allerdings durch die Vervielfachung regionaler Kooperationen unterschiedlichsten Zuschnitts unterlaufen.
4. Ein zentrales Argument für den fehlenden Ausbau sowie die mangelnde Nutzung und Stabilisierung der Strukturkonferenz Ost-Friesland war der angeblich mangelnde „europäische Zuschnitt“ dieser Region.
Dieses Argument verdeckt faktisch nur die fehlende grundsätzliche Bereitschaft der lokalen politischen Akteure, sich gemeinde- und kreisübergreifenden Formen stabiler regionaler Selbstorganisation zu öffnen. Solange „Region“, wie momentan im Nordwesten Deutschlands, generell nur als taktisches und territorial variables Instrument der Subventionseinwerbung für bestehende Gebietskörperschaften gesehen wird, wird allerdings jeder Regionszuschnitt „für Europa zu klein“ sein: Ostfriesland bzw. Ost-Friesland ebenso wie Weser-Ems, die EDR oder die Neue Hanse Interregio.
5. Die Stärke von Regionen liegt nicht in ihrer Kompetenz, Subventionen einzuwerben. Sie liegt ganz grundlegend zunächst in ihrer Selbstorganisations- und Mobilisierungsfähigkeit nach innen.
Regionsbildung ist ein kontinuierlicher gesellschaftlicher und politischer Verständigungsprozeß, in dem es um Konsensbildung über Ziele
und Wege einer möglichst eigenständigen, regionsverträglichen Modernisierung und um interregionale wie transnationale
Kommunikationsfähigkeit geht. Erleichtert wird diese Konsensbildung durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und
Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen („Vertrauen“). Regionale
Identität aktualisiert sich im gemeinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines (in der Regel historisch-kulturellen) Zusammenge-
hörigkeitsgefühls.
6. Gegenüber der Beliebigkeit heute gehandelter Regionalisierungsvorstellungen und damit verbundener Interessen sollte die Diskussion auf die Kernpunkte des in den 70er Jahren einsetzenden Paradigmenwandels der Regionalpolitik zurückgeführt
werden.
Dieser Paradigmenwandel kennzeichnete die Bemühungen von Wirtschaftsadministrationen, Politikern und Regionalwissenschaftlern, neue Wege von Regionalentwicklung zu erproben: Statt "abhängiger Entwicklung" Stärkung endogener Prozesse von Regionalentwick-
lung, statt politischer Steuerung "von oben" (Interventionsstaat) konsequente Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip, statt
kultureller und politischer Apathie in der "Provinz" Partizipation selbstbewußter und vitaler Regionen, statt sektoral isolierter
Mammutprojekte (Dollarthafen) "integrierte" Regionalentwicklung.
In diesem Konzept konnte und kann "Region" ohne kulturelle Identitätskomponente nicht gedacht werden. Man versucht immer wieder,
diese Identitätskomponente durch technokratisches Identitätsmanagement und Image-Marketing zu erzeugen („Wir wachsen,
zusammen!“). Die Wirkung dieser Versuche ist sehr begrenzt: die Dynamik regionalkultureller Vergesellschaftung folgt einem anderen
Takt als die Opportunitäten der Veränderung ökonomischer oder politisch-administrativer Kooperationsräume.
7. Ostfriesland profitiert momentan mehr denn je von einer postmodernen Neugierde auf und Faszination durch regionalkulturelle Besonderheiten. Man sollte diese Neugierde nicht mit der Bereitschaft zu mildtätigen Spenden verwechseln.
Im provinziellen Bewußtsein sind regionalkulturelle Besonderheiten „Folklore ohne Wert“ – man orientiert sich an den Zentren und
versucht, die dortigen Entwicklungstrends zu kopieren. Regionalbewußtsein dagegen zeigt sich in eigenständigen Strategien der
Regionalentwicklung, in denen regionalkulturelle Besonderheiten zur Basis regionaler Lebensqualität und Mobilisierung werden können
und sich mit politischen und wirtschaftlichen Orientierungen zu einem aktiven Regionalbewußtsein und zukunftsfähigen Visionen von
Regionalentwicklung verbinden – dies ohne Illusionen über die Spielräume in einer global vernetzten Welt. Ostfrieslands Stärken sind
nicht nur niedrige Lohnkosten, günstige Bodenpreise und eine attraktive Kulturlandschaft, sondern v.a. auch eine noch vergleichsweise
intakte Zivilgesellschaft.
8. Die besondere Wertschätzung zivilgesellschaftlicher Solidarität ist eine regionalkulturelle Ressource, die in Ostfriesland in den kommenden Jahren massiv gegen Auflösungserscheinungen zu stützen sein wird.
Konkret bedeutet dies die Stärkung lokaler und regionaler Identität ohne Abschottung und Fremdenfeindlichkeit und die weitere Stärkung der in Ostfriesland sehr ausgeprägten „Grauzone“ zwischen Staat und Markt durch Überführung von ehrenamtlichen,
nachbarschaftlichen und auch schattenwirtschaftlichen Aktivitäten in stabile, neue Organisationsmodelle des „Dritten Sektors“.
Zivilgesellschaftliche Solidarität, die Normen des alltäglichen Miteinanders sind Merkmale kulturell vermittelter sozialer Stabilität. Diese
stabilisierenden Merkmale müssen woanders erst mühsam rekonstruiert werden (vgl. oben: regionales Identitätsmanagement!).
9. Regionale Identität im Sinne von geteilten Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen steht als Orientierungshilfe für gemeinschaftliches Handeln auch in ländlichen Randregionen in Konkurrenz zu Orientierungen nach (partei-) politischen Überzeugungen, kirchlichen Bindungen, beruflichen und standespolitischen Solidaritäten oder konsumorientierten Lebensstilen.
In diesen Orientierungen dominieren durchweg herkömmliche Abhängigkeitsstrukturen zwischen Zentrum und Peripherie, Metropole und "Provinz", "Stadt" und "Land": Regionale Prägungen und Lebensgewohnheiten werden schlimmstenfalls als "provinziell", bestenfalls als Dekor wahrgenommen und von "Provinzlern" in dieser Abwertung auch noch verinnerlicht. Die Vorbilder auch kultureller Arbeit werden jenseits der Region gesucht: "Niveau" ist national, europäisch oder gar international. Das typologische Gegenbild zu dieser "provinziellen Weltoffenheit" ist das Leitbild integrierter, nachhaltiger Regionalentwicklung, das in dem Slogan "Global denken, regional handeln" griffig auf den Punkt gebracht wird.
Fazit: Bevor über grenzüberschreitende Kooperationen und größere Vernetzungräume nachgedacht werden kann, sollte Klarheit über das Fundament selbstbewußter Partnerschaften herrschen: Was sind Ostfriesland Stärken, was seine Schwächen und welche Interessen folgen daraus für welche überregionalen Kooperationen, Zweckverbände oder Zusammenschlüsse?
Leer, den 22.05.01