Grundsatzkritik einer manipulativen und pseudowissenschaftlichen Studie des seinerzeitigen Leiters des ehemaligen Bonner
"Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft" (IWG, 2008 aufgelöst), Meinhard Miegel:
Dirk Gerdes
Regionalentwicklung
oder:
Ist bei den Ostfriesen Hopfen und Malz verloren?
(erschienen in: Ostfriesland-Journal Nr. 4 / 21. Jahrgang, April 1990, S. 9-11; vgl.: http://www.allvin.de/pdf/2006_martin_neues-archiv-nds.pdf)
Vor einigen Monaten kam bei Politikern und hohen Verwaltungsbeamten Ostfrieslands Unruhe auf: Eine umfangreiche Studie des vom konservativen Querdenker Kurt H. Biedenkopf gesteuerten Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) Bonn war erschienen. Titel: „Der Einfluß außerökonomischer Faktoren auf die Beschäftigung - dargestellt an den Arbeitsamtsbezirken Leer und Balingen“. Die Aussagen dieser Studie bergen nach Meinung Peter Adenas (GAG Norden) für unsere Region „eine ungeheure Sprengkraft“ (OZ, 8.7.1989).
Peter Adena hat Recht. Die Brisanz der Studie - leider nicht im Buchhandel erhältlich - liegt in der Ausgangsfrage, die den Technokraten des Wirtschaftswachstums heute mehr und mehr Kopfschmerzen bereitet: „Warum bleibt trotz moderater Löhne, sinkender Energiepreise, munterer Investitionen und Gewinne ein immer größerer Sockel von Menschen zurück, die dennoch keine Stelle finden? Gibt es neben den Kosten und anderen Wirtschaftsdaten noch andere Faktoren, die darüber entscheiden, ob und wo neue Arbeitsplätze entstehen?“
Auf diese treffende Kurzfassung bringt Peter Gillies (DIE WELT, 8.6.89, S. 3) zugleich auch das komplexe Untersuchungsprogramm des IWG - ein Untersuchungsprogramm, dessen Ergebnisse erstmals in Form „harter Daten“ die Vermutung bestätigten, daß regionale Wirtschaftspolitik ohne Beachtung kultureller Kontexte einem blinden Huhn gleicht, das Eier nur solange legen kann, wie es im Futter schwimmt.
Das „Futter“, sprich: die finanziellen Mittel, die bisher für eine gezielte politische Beeinflussung regionalwirtschaftlicher Entwicklungsprozesse eingesetzt werden (können/sollen), ist knapp geworden und wird noch knapper werden. Regionalpolitik als Subventions- oder verkappte Sozialpolitik ist Schnee von gestern. Die Frage muß also lauten: Wie gibt man dem Huhn seine Sehkraft wieder? Oder anders: Wie wird aus blinder regionaler Wirtschaftspolitik eine Politik umfassender Regionalentwicklung, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte als Einheit betrachtet? Ironischerweise trägt die IWG-Studie zur Beantwortung dieser Frage bei, obwohl ihre Auftraggeber daraus nur eine Bestätigung für ein Vorurteil herausgelesen haben. Für das Vorurteil nämlich, daß es sich nicht lohne, Ostfriesland mit Geld vollzupumpen, weil „außerökonomische Faktoren“, d. h. die „Mentalität“ und die regionalkulturellen Eigenheiten der Ostfriesen, dieses Geld ohne wirtschaftliche Struktureffekte versickern ließen:
„Anders als im Süden sind im ostfriesischen Raum (…) von außerökonomischen Faktoren kaum Beschäftigungsimpulse zu erwarten. Moderne Industriegesellschaften bauen auf bestimmten Grundsätzen auf: individuellem Leistungsstreben, Wettbewerb, klaren Organisationsstrukturen, fortwährenden Neuerungen, ständigem Wandel, hoher Mobilität und Flexibilität und einem sorgfältig abgestimmtem Zusammenspiel zwischen Wirtschaft und Staat. (...) Die ostfriesische Region genügt den Grundsätzen moderner Industriegesellschaften, gerade auch imBereich außerökonomischer Faktoren nur bedingt.“ (Kurzfassung S. 41/42).
Wie werden diese „vernichtenden“ Aussagen nun im Einzelnen belegt? Auch hier lohnt sich ein vergleichender Blick, diesmal aber auf die unterschiedlichen Ergebnisinterpretationen in der vom Leiter des IWG, Meinhard Miegel, für politische Zwecke redigierten Kurz- und in der von zwei Sozialwissenschaftlern ausgearbeiteten Langfassung.
Sind die Ostfriesen leistungsfeindlich?
Daß den Ostfriesen im Unterschied zu den Balingern das „arbeitskulturell“ heute notwendige individuelle Leistungsstreben und Wettbewerbsbewußtsein fehle, wird mit den Ergebnissen von Einstellungsmessungen belegt, in denen scheinbar unterschiedliche persönliche Lebensauffassungen zum Vorschein kommen: Sollen die Ostfriesen beispielsweise zwischen der unterschiedlichen Berechtigung der beiden Sprüche „Jeder ist seines Glückes Schmied (...)“und „Tatsächlich ist es so, daß die einen oben sind und die anderen sind unten (...)“ wählen, so entscheiden sie sich nur zu 38% für den Spruch von der privaten Glücksschmiede. Die Balinger Schwaben dagegen scheinen mehrheitlich (57 %) fest von ihren individuellen Aufstiegschancen überzeugt zu sein (vgl. Kurzfassung, S. 35).
Schaut man in die Langfassung, so stellt man fest, daß dieser frappierende Unterschied zum großen Teil darauf beruht, daß viele Ostfriesen sich einfach weigern, ohne weiteres zwischen diesen beiden simplen Alternativen zu wählen: 31 % verweigern eine klare Antwort (vgl. Graphik S. 169, Langfassung). Vergleicht man weiter nach Konfessionen, so stellt sich heraus, daß die Protestanten im Arbeitsamtsbezirk Leer (der ja auch Teile des katholischen Emslandes umfaßt) ebenso wie die Protestanten im Balinger Raum sich gleichermaßen zu 32 bzw. 33 % durch gesellschaftliche Schichtungsstrukturen in ihrem individuellen Leistungsstreben eingegrenzt fühlen. Die Unterschiede reduzieren sich also weitgehend auf die katholischen Bevölkerungsteile der beiden Arbeitsamtsbezirke und sagen somit nichts über die Ostfriesen aus. Ähnlich einseitig werden in der Kurzfassung auch andere Befragungsergebnisse zu einem Bild der „industriegesellschaftlich“ vermeintlich leistungsfeindlichen Ostfriesen zugespitzt. Dies geht so weit, daß sogar völlig schiefe Behauptungen aufgestellt werden: 49 % aller im Arbeitsamtsbezirk Leer Befragten geben familiären bzw. privaten Interessen Vorrang vor beruflichen Anforderungen, in Balingen sind es lediglich 5 % weniger. Trotzdem wird dieser Unterschied als ein Beleg für die Leistungsfeindlichkeit der Ostfriesen zitiert. Schaut man sich die Zahlen genauer an, kehrt sich das Bild völlig um: Unter den bei dieser Fragestellung ausschlaggebenden Erwerbstätigen und Arbeitssuchenden entscheiden sich im Leeraner Bereich lediglich jeweils 27 % für das Privatisieren, im Balinger Raum sind es dagegen 31 bzw. 35%.
Was soll man von einer Darstellung empirischer Befunde halten, die für die politische Meinungsbildung solche entscheidenden „Feinheiten“ unterschlägt?
Sind die Ostfriesen unflexibel und innovationsfeindlich?
Eine Reihe interessanter Befunde der IWG-Studie tauchen in der Kurzfassung nur unter „Ja-aber-Vorbehalten“ auf: Sie werden in ihrer Bedeutung heruntergespielt, weil sie nicht in das Bild der „leistungsfeindlichen“ Ostfriesen passen.
Hierzu gehören die Antworten auf neun Fragen an Arbeitslose, was sie im einzelnen alles in Kauf nehmen würden, um wieder Arbeit zu bekommen. Die Ostfriesen (außer Emsland) sind demnach mehrheitlich bereit, die Branche zu wechseln, weite Wege in Kauf zu nehmen, mit weniger Verdienst auszukommen, eine andere Tätigkeit auszuüben, mit einer schlechteren beruflichen Position zufrieden zu sein, ungünstigere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, eine weniger interessante Tätigkeit als bisher anzunehmen und sogar u. U. unangenehmere Arbeiten zu yerrichten. Diese Flexibilität ist bei den Ostfriesen weitaus ausgeprägter als bei den Arbeitslosen im Balinger Raum. Nur eine Möglichkeit, der Umzug, wird eindeutig abgelehnt - und in der Studie entsprechend herausgestrichen! Vorbild wieder einmal: die Schwaben!
Nur, was heißt Umzug für einen befragten Ostfriesen, und was heißt dasselbe Wort für einen Balinger? Balinger finden, wenn sie wollen, in Reutlingen, Ravensburg, Konstanz oder Stuttgart einen Arbeitsplatz: Umzug heißt, im „Schwabenländle“ zu bleiben! Ostfriesen assoziieren mit Umzug Stuttgart. Würde man die Balinger fragen, ob sie in 30 Jahren in ein prosperierendes Ostfriesland umziehen würden, wären die Antworten mindestens ebenso ablehnend wie die der Ostfriesen heute.
Bleibt noch der Vorwurf der Innovationsfeindlichkeit, der mit einem Umfrageergebnis belegt wird, nach dem im Bereich Leer 72 % eine Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Neue Technologien befürchten, während dies im Balinger Raum nur 42 % als Gefahr ansehen (Kurzfassung, 5. 39).
Abgesehen davon, daß diese Befürchtung in einer wirtschaftlich abhängigen Randregion wesentlich begründeter ist als in Balingen - wie wären diese Antworten wohl ausgefallen, wenn BIZERBA als wichtigster Arbeitgeber in Balingen vor einigen Jahren, wie damals gemunkelt wurde, wirklich Konkurs gemacht hätte, weil diese Firma den technologischen Wandel fast verschlafen hätte? Und wie kommt es, daß das VW-Werk Emden unter allen VW-Standorten die höchsten Pro-Kopf-Ausschüttungen für innerbetriebliche Verbesserungsvorschläge verzeichnet? Ergebnis: Auch hier wird behauptet, etwas gemessen zu haben, was so nicht zu messen ist!
Sind die Ostfriesen desorganisiert?
Oberflächlich und einseitig interpretiert wird an vielen weiteren Stellen der Kurzfassung. Der Platz reicht nicht aus, dies im einzelnen auszuführen. Aber einige Aussagen halten auch einer näheren Betrachtung stand. Dazu gehören die Befunde, die eine große Unzufriedenheit der Ostfriesen mit ihren Repräsentanten in Wirtschaft und Politik bezeugen.
In wesentlich geringerem Maße bescheinigen die Ostfriesen im Vergleich zu den Balingern ihrer regionalen Unternehmerschaft Weitblick, Erfindergeist, Leistung und Verantwortungsbewußtsein (Langfassung, S. 355) - ein Urteil übrigens, das in einer separaten Unternehmerbefragung selbst von den Betroffenen im wesentlichen bestätigt wird (Langfassung, S. 373, 375, 377)!
Bei einer Einschätzung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Industrieansiedlungen in der Region fällen die Ostfrjesen (ohne Emsland) im Unterschied zu den Schwaben vernichtende Urteile über die regionalen Wirtschaftsförderprogramme, die Hochschulausbildungsmöglichkeiten, die Wirtschaftspolitik der Landesregierung und über die politische Führung in der Region (Langfassung, S. 200 f). Entsprechend deutlich wird in Ostfriesland von 69 %, im Emsland nur von 38 % und im Balinger Raum von 41 % der Befragten primär der Staat für die Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht (Langfassung, S. 314). Die Kurzfassung spitzt diesen Befund wieder zu der Negativaussage zu, daß die Ostfriesen sich mit dieser Einstellung vor ihrer persönlichen Verantwortung drücken (S. 35), obwohl wenige Seiten weiter überdeutlich gesagt wird: „Die insgesamt schwache politische Führung im Norden hat dort zu erheblichem Kompetenzstreit, Subventionswirrwarr und zunehmender Resignation geführt. Die Beschäftigungssituation wird dadurch weiter beeinträchtigt. Neu ist diese Situation jedoch nicht. Sie ist in der Geschichte dieser Region immer wieder anzutreffen.“ (S. 38/39).
In erschreckender Weise paßt ein Befund, der für Demoskopen bei der Einschätzung der Vitalität von Gruppen, Organisationen, Regionen und selbst ganzer Staaten immer ein alarmierendes Zeichen ist: Während die Erwerbstätigen nicht nur in Balingen, sondern auch in Ostfriesland, ihre gegenwärtige persönliche Wirtschaftslage mehrheitlich (67 und 62 %) als „gut“ beurteilen, wird die wirtschaftliche Lage der jeweiligen Heimatregion nur von 7 % der Ostfriesen (!),aber von 69 % der Schwaben ähnlich positiv gesehen (Langfassung, S. 179).
Fazit dieses Blicks hinter die Kulissen einer brisanten Studie:
Das Negativimage Ostfrieslands ist, wie die IWG-Studie zu Recht herausstreicht, nicht allein auf rein wirtschaftliche Rahmenbedingungen, sondern mindestens ebenso gewichtig auch auf Einstellungen, Werthaltungen und eingeschliffene Verhaltensweisen, auf kulturelle Faktoren also, zurückzuführen. Die Ursachen von Arbeitslosigkeit sind auch in diesen „außerökonomischen Faktoren“ zu suchen.
Eine verbreitete Resignation und „kollektive“ Lähmung durchdringt das Bewußtsein der Ostfriesen - bis hin zu einer schon fast verzweifelt zu nennenden Konzessionsbereitschaft und Flexibilität, wenn es um die Suche nach einem Arbeitsplatz geht. Diese Einstellung findet ihre Bestätigung und immer wieder neue Nahrung auf einer Ebene, die für das erfolgreiche Management und die gesellschaftliche Dynamik moderner Industriegesellschaften auch im regionalen Rahmen entscheidend ist: Im Bereich der regionalen und kommunalen politischen Interessenvertretung (Konkurrenz statt Kooperation), in den Defiziten bei der Formulierung und Umsetzung einer kohärenten regionalen Wirtschaftspolitik („Kompetenzstreit“, „Subventionswirrwarr“) und in gravierenden Mängeln bei der gezielten Durchsetzung von Innovationen sowohl auf einzelbetrieblicher als auch auf Verwaltungs- bzw. Kammer-Ebene (Langfassung, S. 216 ff).
Angesichts dieser desolaten Ergebnisse kann die Hoffnung, die die IWG-Studie mit ihren Hinweisen auf innovatorische Keimzellen (z. B. FHO Emden, GAG Norden) und auf den hohen Anteil junger Unternehmer (Langfassung, S. 218 ff) andeutet, zumindest kurzfristig nur begrenzt Trost spenden.
Was bei genauerem Hinsehen auf die Daten der Studie in sich zusammenfällt, sind Behauptungen der politisierten Kurzfassung, in denen das negative Ostfriesen-Bild auf die Bevölkerung insgesamt übertragen wird. Auch unter konventionellen industriewirtschaftlichen Standards können sich die Ostfriesen „arbeitskulturell“ durchaus mit den Schwaben messen. Darüber hinaus gibt die Studie aber noch etliche Hinweise auf regionalkulturelle Werthaltungen und Einstellungen, die Züge einer in die Zukunft weisenden „postindustriellen“ Gesellschaft aufweisen, obwohl diese in der IWG-Studie und erst recht auch bei einigen ostfriesischen Führungskräften lediglich als Traditionsballast angesehen werden. Dabei kann es zu paradoxen Konstellationen kommen, denen im nächsten Beitrag nachgespürt werden soll.