Rezension:
Helga Ostendorf: Ostfriesland verstehen. Berichte aus einem eigentümlichen Land. Berlin: epubli GmbH, 2013, 235 Seiten.
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Gekürzt in: Ostfriesische Nachrichten, 24./25. August 2013
In der anhaltenden Publikationskonjunktur für Ostfrisica legt die an der Freien Universität Berlin lehrende Privatdozentin Helga Ostendorf jetzt ein Buch vor, das schon im Titel Neugierde weckt: Ostfriesland verstehen - das verspricht „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) statt oberflächlicher Kennziffern-Sammlung!
Man wird nicht enttäuscht: In einem vielfarbigen Kaleidoskop von 22 flott formulierten thematischen Kurzkapiteln entfaltet sich ein ostfriesisches Panoptikum, das sich nicht auf landläufige Kuriositäten beschränkt, sondern in dem sich ernsthaftes Engagement und Betroffenheit zeigt. Ostendorf kennt sich in Ostfriesland aus, zumindest im südlichen Ostfriesland (das Harlingerland wird so gut wie gar nicht erwähnt). Sie hat in Leer am TGG Abitur gemacht (S. 81). Gleichzeitig erlaubt ihr Beruf als Sozialwissenschaftlerin aber auch Distanz. Neben einer schon fast mit ethnologischer Entdeckerfreude und Einfühlungsvermögen getätigten Zeitungslektüre zieht sie als Quellen vielfältige Statistiken und Forschungsarbeiten heran, die ihrem Engagement ein überzeugendes Fundament geben.
So stützt sie sich in der Beschäftigung mit der ostfriesischen „Identität“ auf das kulturgeographische Standardwerk von Rainer Danielzyk et al.: Ostfriesland: Leben in einer “besonderen Welt (1995), in dem den OstfriesInnen Selbstbehauptungswillen, Selbstgenügsamkeit und Selbstbewusstsein zugeschrieben wird (S. 12f). Die dann folgende historische Anreicherung dieser „Eigenschaften“ dürfte wissenschaftlichen Ansprüchen zwar kaum genügen, aber das ist auch nicht beabsichtigt! Zielgruppen des Buches sind nicht WissenschaftlerInnen, sondern BesucherInnen Ostfrieslands, Einheimische, Butenostfreesen und Zugezogene (S. 7).
Schon in der Einleitung klingt dann ein Leitmotiv an, das sich durch das ganze Buch zieht: „Hannover“ hat 1815 Ostfriesland „besetzt“, Preußen hatte es auf dem Wiener Kongress „verschachert“ (S. 17). Das Ende der „Friesischen Freiheit“! Kämpferisch schlägt Ostendorf im Fazit ihres Buches vor, den 200. Jahrestag der Wiener Schlussakte vom 9. Juni 1815 in zwei Jahren zum Anlass einer Selbstauflösung der ostfriesischen Gebietskörperschaften zu nehmen. Anschließend sei ein gesamtostfriesisches Parlament zu wählen! Ostfriesland solle endlich mit einer Stimme sprechen!
Als Politikwissenschaftlerin weiß sie natürlich, dass ihr Vorschlag keine Realisierungschancen hat, zumal selbst noch ein so zahnloses Gremium wie der 2010 eingerichtete „Regionalrat“ von den bestehenden Gebietskörperschaften neutralisiert wird (S. 226f). Diese Kritik an den heimischen Eliten ließe sich weiter vertiefen…
Bis zu diesem Fazit hat Ostendorf viele Belege zur Illustration bzw. zum Nachweis der Besonderheit Ostfrieslands gesammelt: Die Namensgebung (Kap. 2), mit der OstfriesInnen in Süddeutschland bis heute auffällig werden; eine bunte Reihe bekannter Persönlichkeiten mit ostfriesischen Wurzeln, auf die man stolz ist (Kap. 3); die sehr ausgeprägte Chancenungleichheit von Frauen auf dem ostfriesischen Arbeitsmarkt, die die ausgewiesene Genderforscherin mit fundierten Belegen nachweist (Kap.4) und – neben vielen weiteren Belegen (Hausbau, „Baumallergie“, Ostfriesensport, Kirchen) - natürlich die Regionalsprache (Kap.6 und 7).
Hier zeigt Ostendorf die weit verbreitete Gespaltenheit ostfriesischer Plattdeutsch-SprecherInnen: Einerseits Stolz auf die Sprache und „Hoffnung“ auf ihr Weiterbestehen (S. 73). Andererseits Fremdschämen für die typischen Fehler im „Ostfriesendeutsch“ der ostfriesischen Tagespresse (Kap. 7) und die (längst widerlegte) Befürchtung, muttersprachliche Plattdeutsche hätten grundsätzlich Schwierigkeiten mit dem Standarddeutschen (S. 72). Ostendorf sieht nicht den Zusammenhang zwischen diesen Defiziten und der auch von ihr beklagten Unterdrückung des Plattdeutschen in den 60er Jahren (S. 65 f): Das zwanghafte Hochdeutsch-Sprechen der damaligen plattdeutschen Elternschaft hat eine ganze Generation OstfriesInnen mit „typischen“ Sprachdefiziten hervorgebracht, die man mit einer konsequenten Erziehung zur Zweisprachigkeit hätte vermeiden können.
Unterbelichtet bleibt auch der scheinbare Widerspruch zwischen niedriger Kaufkraft (Kap. 10) und fast flächendeckender Versorgung der Ostfriesen mit Eigenheimen (Kap. 17). Hier könnten Hinweise auf den „informellen Sektor“ der Nachbarschaftshilfe und der sog. „Schwarzarbeit“ eingearbeitet werden.
Ihre argumentative Stärke spielt Ostendorf aber bei den Kapiteln aus, die der Begründung ihrer Forderung nach Abbau der „Außenbestimmtheit Ostfrieslands“ (S. 225) dienen: Die heutige Vernachlässigung des Bildungswesens trotz einer stolzen regionalen Bildungstradition (Kap. 8); Verdrängung des Getreideanbaus durch den Energieträger Mais (40 % der Ackerfläche Ostfrieslands, 54 % der Ackerfläche im Landkreis Leer!) (Kap. 11); Vernachlässigung der Bahnanbindung und des ÖPNV (Kap.16); die Umweltschäden durch Fracking, Gasspeicher, Intensivtierhaltung, Torfabbau und Ems-Vertiefung (Kap. 19 u. 20). Dass sie dabei der Meyer-Werft und dem Emssperrwerk gut recherchierte kritische Kapitel widmet, versteht sich von selbst.
Kritisieren muss der Rezensent der Vollständigkeit halber aber die mangelhafte Endredaktion des Buches, die sich in wiederholten Flüchtigkeits-, Rechtschreib- und Grammatikfehlern zeigt. Ärgerlich sind dabei nur die offenkundigen Recherchefehler: So z.B. die Verwechselung des 475g-Kloots für das Klootschießen mit einem Boßel aus Holz/Kunststoff/Gummi für das Straßenboßeln oder die wiederholte Behauptung, dass die Bahnstrecke Oldenburg-Leer bis heute nicht elektrifiziert sei. Sie ist es seit 1992! Sie wartet allerdings noch auf ihren zweigleisigen Ausbau. Zu kurz greift auch die Behauptung, dass der „steigende Meeresspiegel“ dazu führen werde, „dass so manches heutige Baugebiet vernässen wird“ (S. 161). 56 Seiten später werden die Folgen eines Zusammentreffens von zunehmendem Starkregen, eventuellen Sturmfluten und geschlossenem Emssperrwerk schließlich doch noch differenzierter beschrieben.
Solche im Print-on-Demand Verfahren leicht zu korrigierenden Schönheitsfehler können aber den insgesamt sehr positiven Eindruck, den dieses Buch beim Leser hinterlässt, nicht nachhaltig trüben. Es ist flott geschrieben, voller Humor und Empathie, gleichzeitig überaus informativ. Ich kann es nur empfehlen! Aber: Ostfriesland wirklich verstehen – wer kann das schon? Dafür sind allein schon die Selbstinterpretationen der Ostfriesen viel zu disparat und widersprüchlich.