Eine konstruktive und immer noch aktuelle Polemik: Wie (Sozio)Kulturförderung aus Hannover das platte Land " im Nordwesten entwickeln" wollte.....
Tagung und MV der niedersächsischen Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur (LAGS)
25./26. März 1998; Alte Molkerei Freren/Emsland
Statement Dr. Dirk Gerdes, Aurich, zum Tagungsthema: (Sozio)Kulturförderung im ländlichen Raum
Ausgangspunkt: Formulierung der Fragestellung in der Tagungseinladung
"Etwa 2/3 aller Niedersachsen leben im ländlichen Raum oder in Kleinstädten. Der überwiegende Teil der Kulturförderung fließt jedoch in Groß- oder Mittelstädte. Dies gilt (mit wenigen Abstrichen) leider auch für die Soziokulturförderung. Dabei sind in den letzten Jahren in ländlichen Einrichtungen und Projekten ganz eigenständige Qualitäten entwickelt worden, von denen auch die "Städter" einiges lernen können. Müssen wir nicht noch stärker als bisher umsteuern, um einer Medien- und Kulturlandschaft, die sich immer mehr an den großen "Events" orientiert, auf breiter Ebene die Kreativität und Phantasie der Menschen entgegenzuhalten?"
Das Statement hat sich also auf drei "Behauptungen" der Veranstalter zum Tagungsthema zu beziehen:
I. Kulturförderung generell, aber auch Soziokulturförderung vernachlässige massiv den ländlichen Raum
II. In der (sozio)kulturellen Arbeit des ländlichen Raumes seien eigenständige Qualitäten zu erkennen
III. Eventkultur brauche das Gegengewicht der Kreativität und Phantasie der Menschen
I. (Sozio)kulturförderung in Niedersachsen: Nur Vernachlässigung des ländlichen Raumes?
These 1:
Die Soziokulturförderung in Niedersachsen verfestigt nicht nur das herkömmliche Stadt-Land-Gefälle der Kulturförderung, sondern zeigt im landesweiten Maßstab ein charakteristisches Zentrum-Peripherie-Muster zentralisierter Innovationspolitik: Projektvielfalt auf der Basis ausgebauter Infrastruktur im Zentrum, hohe Infrastruktur-Investitionen bei vergleichsweise geringer Projektintensität in der Peripherie.
1997 wurden 45 % der landesweiten Investitionsmittel im soziokulturellen Bereich auf den südlichen Regierungsbezirk Weser-Ems konzentriert (Postleitzahlen 48 u. 49), während allein 43 von 95 geförderten Projekten, d. h. ebenfalls 45 %, im Großraum Hannover (Postleitzahlen 30/31) angesiedelt waren.
In der Regionalentwicklungsdebatte bezeichnet man Vorzeigeprojekte der regionalen Strukturpolitik der 60er Jahre, wie z. B. Fos-sur-Mer bei Marseille oder La Grande Motte an der westlichen Mittelmeerküste Frankreichs, als "Kathedralen in der Wüste": Sie führten nicht zu einer Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur und zerstörten endogene Potentiale im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen dieser Randregionen.
Ich hoffe, dass diese Analogie für den Bereich Soziokulturförderung widerlegt wird. Doch zunächst drängt sich eine weitere Parallele auf:
These 2:
Die Instrumente der niedersächsischen Soziokulturförderung greifen im ländlichen Raum zu kurz: Investitionsförderung allein garantiert noch nicht die notwendige Stabilisierung und Mobilisierung soziokultureller Milieus, die die Voraussetzung für die Kreativität und Vielfalt von Projektarbeit ist. Kathedralen haben meistens zu kleine Kirchengemeinden!
Soziokulturelle Arbeit in Großstädten kann (immer noch) subkulturell organisiert werden. Die Zielgruppen bestehen aus vergleichsweise stabilen, ökonomisch und organisatorisch hinreichend dauerhaften Sozialmilieus. Vergleichbar stabile subkulturelle Sozialmilieus sind im ländlichen Bereich selten. Sie bleiben in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld marginal und individualisiert, wenn es ihnen nicht gelingt, sich produktiv mit diesem Umfeld zu vernetzen. Ein soziokulturelles Zentrum auf dem Lande ist nur dann lebensfähig, wenn es auch Bedürfnisse/Bedarf weiter Bevölkerungskreise und Gruppen dauerhaft zu bedienen weiß. Soziokulturelle Vorzeigeprojekte sind ggf. Ergebnis, nicht aber Initialzündung einer extensiven ländlichen Kulturarbeit mit langem Atem.
Voraussetzung für eine extensive ländliche Kulturpolitik ist die Schließung der Lücke zwischen punktuellen Großinvestitionen und kurzfristiger Projektförderung. Ländliche Kulturpolitik muß zunächst die Voraussetzungen für eine Stabilisierung ihrer Trägermilieus schaffen, bevor sie diese Milieus in kreativen Projekten zusammenführen kann. Beispielhaft hierfür stehen die Kulturarbeit der Ländlichen Akademie Krummhörn und die kulturelle Mobilisierung durch die Regionalprogramme im Bereich der Ostfriesischen Landschaft.
These 3:
Wenn Soziokultur auch in ländlichen Gebieten eine "kulturelle Praxis" bezeichnen soll,
- "die den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtert;
- die die gestalterische Selbsttätigkeit möglichst vieler Menschen fördert und ihre ästhetischen,kommunikativen und sozialen Fähigkeiten entfalten hilft,
- die die alltägliche Lebenswelt einbezieht" (Die Weiße Mappe 1994: 3),
dann enthält dieses Begriffsverständnis nicht nur die kulturpädagogischen Elemente einer "Kultur für alle", sondern auch die Anerkennung lebensweltlichen und subkulturellen "Eigen-Sinns" (vgl.Bausinger 1993: 486) im Sinne "kultureller Demokratie" (Europarat Strasbourg), der politisch-administrativ Rechnung zu tragen ist.
Gegenüber einer vorschnellen Polarisierung zwischen importierter oder "aufgepfropfter" Soziokultur und "gewachsener" ländlicher Kulturarbeit beteuert die "Weiße Mappe", "wesentlich" für soziokulturelle Arbeit im ländlichen Raum sei "ein Sicheinlassen auf die vorhandenen Strukturen" (a.a.O., S. 4). Damit wird die Balance zwischen kulturpädagogischen Modernisierungsvorstellungen zentraler Mittelvergabestellen und der Anerkennung vorgefundenen "Eigen-Sinns" zum entscheidenden Prüfkriterium für die Ernsthaftigkeit dieser Beteuerung.
Hier macht es mich stutzig, wenn der neueste LAGS-Bericht für die Projekt- und Investitionsförderung 1/98 von einem wieder vergrößerten Stadt-Land-Gefälle zu Ungunsten des ländlichen Raumes spricht und dies mit einer notwendigen Schärfung des Profils soziokultureller Arbeit begründet.
Bedeutet diese Profilschärfung, daß das "Sicheinlassen auf die vorhandenen Strukturen" ländlicher Kulturarbeit wohl doch zu mühsam ist? Hat man - um das Bild von den "Kathedralen in der Wüste" ein letztes Mal aufzunehmen - die Hoffnungen auf eine Begrünung der Wüste zurückgeschraubt?
Unterstellt man in diesem Punkt "guten Willen", gilt dennoch: Schon der zentralisierte Wettbewerb um knappe Mittel und die daraus folgenden Selbstvermarktungszwänge der konkurrierenden Projekte lassen es fraglich erscheinen, ob unter diesen Bedingungen die von Herrenknecht und anderen geforderte Extensivierung ländlicher Kulturarbeit durchzuhalten ist: "Kulturarbeit in der Provinz muß ein Extensivierungsprogrammsein: Extensiv in der Ausdehnung, um alle potentiellen Kulturträger anzusprechen. Extensiv in der Offenheit des Angebots und des Dialogs. Extensiv in der Bestimmung des Wachstumstempos durch die Betroffenen selbst, in der Anerkennung des menschlichen Maßes und der provinziellen Zeitkategorien (Kontinuitätsgebote). Extensiv wie ein ausgespanntes Sonnensegel, das die Energien des Raumes bündelt und zu einer neuen Energieform vereint, in der das Ganze mehr ist als seine Teile." (Herrenknecht 1991 : 30).
Die äußeren Bedingungen eines Wettbewerbs um zentral vergebene Mittel haben eigendynamische Rückwirkungen auf die inhaltliche Planung und Durchführung soziokultureller Projekte.
Wichtiger ist allerdings, daß diese Art der Förderung zu einem kulturellen Spartendenken zurückführt, das in einem diamentralen Gegensatz zu allen Ansätzen moderner Regionalentwicklungspolitik steht: Während regionale Strukturpolitik auf kommunikative Vernetzung und dezentrale Konsensbildung regionaler Akteure in "Regionalkonferenzen" setzt, führt spartenbezogene zentralisierte Kulturförderung gerade nicht zu einer Bündelung der kulturellen "Energien des Raumes", sondern zu ihrer Zersplitterung.
Hiermit ist nun ein zentraler Aspekt der Besonderheit ländlicher (Sozio-)Kulturarbeit angesprochen:
II. Eigenständigkeit ländlicher Kulturarbeit: Zwischen "Provinz" und "Region"
These 4:
Kulturarbeit in ländlichen Randregionen ist heute mehr denn je in einen Kontext gestellt, in dem es um die Selbstbehauptung dieser Regionen gegenüber administrativer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Enteignung von Selbst-Bewußtsein, Eigen-Sinn und eigenständigen Entwicklungsmöglichkeiten geht. Kulturarbeit wird damit zu einem konstitutiven Element von Regionalentwicklung, die als Querschnittsaufgabe nur dezentral und partizipatorisch zu organisieren ist.
Gegenüber der Beliebigkeit heute gehandelter Regionalisierungsvorstellungen und -interessen sollte die Diskussion auf die Kernpunkte des in den 70er Jahren einsetzenden Paradigmenwandels der Regionalpolitik zurückgeführt werden. Dieser Paradigmenwandel kennzeichnet die Bemühungen von Wirtschaftsadministrationen, Politikern und Regionalwissenschaftlern, neue Wege von Regionalentwicklung zu erproben: Statt "abhängiger Entwicklung" Stärkung endogener Prozesse von Regionalentwicklung, statt politischer Steuerung "von oben" (Interventionsstaat) konsequente Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip, statt kultureller und politischer Apathie in der "Provinz" Partizipation, statt sektoral isolierter Entwicklungsprojekte "integrierte" Regionalentwicklung.
In diesem Konzept kann "Region" ohne kulturelle Identitätskomponente nicht gedacht werden. Diese Identitätskomponente ist außerdem durch technokratisches Identitätsmanagement und Image-Marketing nicht zu ersetzen: die Dynamik regionalkultureller Vergesellschaftung folgt einem anderen Takt als die Dynamik ökonomischer oder politisch-administrativer Planungsräume.
In der Bestimmung dessen, was heute "regionale Identität" heißen könnte, hat man spätestens seit der Regionalisierungscharta des Europäischen Parlaments vom November 1988 Abschied genommen vom - wie Hermann Voesgen es einmal bezeichnete - traditionalistischen "Authentizitätsgemurmel".
Regionsbildung ist also kein "traditionalistisches" Relikt vormoderner Lebenszusammenhänge. Regionsbildung ist ein kontinuierlicher gesellschaftlicher und politischer Verständigungsprozeß, in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständigen und regionsverträglichen Modernisierung geht. Erleichtert wird diese Konsensbildung aber durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen. Regionale Identität aktualisiert sich im gemeinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines historisch-kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls.
Diese durch den Paradigmenwandel der Regionalpolitik begründete handlungsorientierte Vorstellung von Regionsbildung und regionaler Identität kennzeichnet keineswegs die herrschende Praxis. Regionale Identität im Sinne von geteilten Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen steht als Orientierungshilfe für gemeinschaftliches Handeln auch in ländlichen Randregionen in Konkurrenz zu Orientierungen nach (partei-)politischen Überzeugungen, kirchlichen Bindungen, beruflichen und standespolitischen Solidaritäten oder konsumorientierten Lebensstilen. In diesen Orientierungen dominieren durchweg herkömmliche Abhängigkeitsstrukturen zwischen Zentrum und Peripherie, Metropole und "Provinz", "Stadt" und "Land". Regionale Prägungen und Lebensgewohnheiten werden herkömmlicherweise schlimmstenfalls als "provinziell", bestenfalls als Dekor, wahrgenommen und von "Provinzlern" in dieser Abwertung sogar noch verinnerlicht. Die Vorbilder auch kultureller Arbeit werden dann jenseits der Region gesucht: "Niveau" ist national, europäisch oder gar international.......
Das typologische Gegenbild zu dieser Art "Weltoffenheit" ist das Leitbild integrierter, nachhaltiger Regionalentwicklung, das in dem Slogan "Global denken, regional handeln" griffig auf den Punkt gebracht wird.
In der gesellschaftlichen Realität wird man heute kaum noch die eine oder andere Orientierung in Reinform finden. Die kulturelle Aufwertung des Regionalen generell hat hier zu vielfältigen Mischformen geführt. Eine "Entmischung" dieser Orientierungen droht nun jedoch von einem Faktor, der alle Kulturarbeiter gleichermaßen betrifft und trifft: das ist die Finanzlage.
III. Eventkultur und kulturelle Breitenarbeit
These 5:
Die Mobilisierung öffentlicher und privater Gelder für die regionale Kulturförderung fällt bei zunehmender Mittelknappheit umso leichter, je unmittelbarer die ökonomische Rentabilität und Wirksamkeit einzelner Fördermaßnahmen nachzuweisen oder zumindest plausibel zu machen sind: Ökonomisches Rentabilitätsdenken und die Zwänge professioneller Vermarktung begünstigen aktualitäts- und konsumorientierte sowie zentralistische Produktionsmuster von Kultur gegenüber langfristig angelegter, partizipatorischer und dezentralisierter Kulturarbeit.
Am überzeugendsten wirken heute Berechnungen, die beispielsweise an der Zahl der Besucher eines kulturellen Ereignisses ("event") die in eine Stadt oder Region geflossene zusätzliche Kaufkraft kalkulieren. Fast alle Kulturveranstalter stehen heute unter dem Druck, die überlokale/überregionale Ausstrahlung ihrer Projekte und Einrichtungen vor dem Hintergrund dieses Kalküls nachzuweisen. Der quantifizierte Indikator "Publikumsresonanz" wird damit zum wichtigsten Maßstab der Wirkungskontrolle kultureller Aktivitäten.
Je weniger dieser Indikator als Effizienznachweis ins Feld geführt werden kann, desto aufwendiger muß die argumentative Rechtfertigung kultureller Projekte gegenüber öffentlichen wie privaten Geldgebern gestaltet werden. Unter diesem Rechtfertigungszwang steht heute soziokulturelle Stadtteilarbeit ebenso wie eine extensiv angelegte ländliche Kulturarbeit, die sich als konstitutiver Bestandteil integrierter und nachhaltiger Regionalentwicklung versteht.
Nachhaltige Regionalentwicklung ist ein im weitesten Sinne kultureller Prozess der Definition von "Eigen-Sinn", der von "kultureller Demokratie" lebt. Kulturelle Demokratie wiederum ist auf institutionelle Vorkehrungen gegen Vermarktungszwänge, einseitige Programmierung "von oben" und bürokratische Kanalisierungen angewiesen.
Die Freisetzung kultureller Dynamik in kultureller Demokratie ist der wichtigste Beitrag, den regionale Kulturpolitik für Regionalentwicklung leisten kann. Erst wenn dieses Fundament gesichert ist und sorgfältig gepflegt wird, kann sich die Substanz bilden, die Regionen auch nach außen "unverwechselbar" macht. Diese Reihenfolge wird nicht nur im Regionsmarketing heute zunehmend verdrängt.