"Kollektive Identität" - Zur neuerlichen Politisierung einer geschichtsphilosophischen Erbschaft
Antrittsvorlesung an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Heidelberg am 15.02.1984 in der Alten Aula
"Das Thema 'Identität' hat Identitätsschwierigkeiten: die gegenwärtig inflationäre Entwicklung seiner Diskussion bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen. In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: alles fließt. So werden die Konturen des Identitätsproblems unscharf; es entwickelt sich zur Problemwolke mit Nebelwirkung: Identitätsdiskussionen werden - mit erhöhtem Kollisionsrisiko - zum Blindflug." (O. Marquard 1979: 347)
Als Odo Marquard im September 1976 mit diesen Sätzen seine - wie er sich ausdrückte - "skeptische Einmann-Expedition ins wilde Land der Identität" (a.a.O.: 347) einleitete und dem achten Kolloquium der Gruppe "Poetik und Hermeneutik" vorstellte, war sein Thema kaum über den Arkanbereich des Akademischen hinausgewachsen. Acht Jahre später, heute also, ist "Identität" eine Vokabel alltäglicher Intellektualität. Dass damit die Identifizierung dessen, was mit "Identität" gemeint ist, nicht leichter wird, ist eine Binsenweisheit. Einleuchtend ist aber auch, dass mit dem neuerlichen Überborden der Identitätsdiskussion in eine ausdrücklich politisch engagierte Publikationskonjunktur zumindest die Kollisionsrisiken konkreter zu bestimmen sind. Sie büßen ihre ästhetische Folgenlosigkeit ein, die Marquard ihnen, aufbauend auf Luhmann, seinerzeit noch bescheinigen konnte.
Der feinsinnigen Diskussionsrunde von "Poetik und Hermeneutik" sind Wissenschaftler-Hearings des Ausschusses für innerdeutsche Beziehungen des Deutschen Bundestages und eine Vielzahl von Tagungen politischer Stiftungen gefolgt. Die politisch-publizistische Diskussion identifiziert in der "Problemwolke“ ästhetisch-intellektueller Beschaulichkeit neue, konfligierende Orientierungsmarken für den - so Weidenfeld lakonisch - "politischen Machtkampf" (Weidenfeld 1983: 31). Dies insbesondere durch die Zuspitzung des abstrakten Problems "kollektiver Identität" auf die konkrete Auseinandersetzung um die Bestimmung von "nationaler", gar "deutscher Identität".
Realitätsvergessen mag es da anmuten, diese doch scheinbar scharfe Konturierung des Problems in der "Ortlosigkeit" eines Begriffs von "kollektiver Identität" wieder zu entgrenzen. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass das Politikum "deutsche Identität" erst in der Distanz eines relativierenden Nachdenkens über "kollektive Identität“ seinen Bekenntnischarakter verliert.
Distanz durch Abstraktion, wenngleich nicht durch Relativierung, ist schließlich auch vorgegeben durch die geschichtsphilosophische Erbschaft, die dem Begriff "kollektive Identität" anhaftet. Odo Marquard hat diese Erbschaft - anscheinend etwas voreilig - mit den folgenden Worten charakterisiert:
"Unter den Grundvokabeln des Fundamentalvokabulars der sterbenden Geschichtsphilosophie der werdenden Identität gibt es - diesseits ihrer Konkretionen, Resignationen, Blamagen - mindestens einen prominenten Überlebenden: nämlich den Identitätsbegriff selber. Er wird zum großen Hinterbliebenen der Geschichtsphilosophie: nunmehr philosophisch heimatlos." (Marquard 1979: 361)
Voreilig ist diese Charakterisierung insofern, als ihre - um im Bild zu bleiben - gerontologische Illusionslosigkeit in den letzten Jahren durch dezidierte Versuche konterkariert wird, den sterbenden Erblasser geriatrisch am Leben zu erhalten. Ob dies nun untaugliche Versuche am untauglichen oder am tauglichen Objekt sind - diese Frage zu entscheiden, muss ich mangels Kompetenz den Philosophen überlassen. Ich maße mir nicht an, die prätentiöse Attitüde, mit der Dieter Henrich in seinem monographischen Problemaufriss die philosophische Identitätsdiskussion gegen die sozialwissenschaftliche "Allerweltsaufklärung" (Henrich 1979: 135) absetzt, aus politologischer Sicht replizieren zu können. Auffällig ist allerdings, dass die gerade an den Rändern der etablierten Politikwissenschaft intensiv forcierte Identitätsdiskussion sich kaum noch dazu hergibt, genuin sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Ergebnisse, beispielsweise der political-culture-Forschung, in ihre Überlegungen aufzunehmen. Hier ist man als konventioneller Politologe gezwungen, in aller Zurückhaltung den Versuch eines grenzüberschreitenden Nachfragens zu machen.
Fragen zu formulieren, Skepsis anzumelden, Inkonsistenzen aufzuzeigen - das ist die kritische Absicht der folgenden Aufarbeitung von mehr oder weniger philosophisch inspirierten, primär aber an politischer Wirksamkeit interessierten Beiträgen zum Problem "kollektiver Identität". Kritik beinhaltet aber zuallererst auch die Nachzeichnung der kritisierten Argumentation. Diese Notwendigkeit beschränkt mich hier auf die exemplarische Auseinandersetzung mit einem durch drei Autoren abgesteckten Argumentationsspektrum, jeweils ergänzt durch knappe weiterführende Hinweise. Die entsprechenden Abschnitte meines Vortrags sind wie folgt überschrieben:
I. Nationale Identität und "kategorischer Imperativ"
II. Nationale Identität als Fluchtpunkt "konkreter Lageanalyse"
III. Kollektive Identität zwischen "Lebenswelt" und "System"
Die Darstellung gilt konkurrierenden Perspektiven, nicht der Entfaltung eines vorweg definierten Eigenverständnisses von "kollektiver Identität". Gleichwohl wird ein Fazit zu formulieren sein, das auch die Perspektive der Kritik auf den Begriff bringt.
I. "Nationale Identität und 'kategorischer Imperativ'"
Angeregt ist diese Überschrift durch einen apodiktischen Satz aus dem Buch "Die Deutsche Nation" von Bernhard Willms, Köln 1982, den ich hier in seinem argumentativen Kontext zu zitieren habe:
"Die Idee der Nation hat im Begriff des Staates ihre Notwendigkeit - wer überhaupt denkt, muss diesen Begriff denken. Ihre besondere Wahrheit liegt innerhalb dieses Denkens oder innerhalb des Bewusstseins. Dieses, das Bewusstsein, existiert nur als Individuell-Besonderes, der Begriff des Staates ist die notwendige Allgemeinheit dieses Besonderen in gedachter Verwirklichung. Die Idee der Nation ist die Übereinstimmung aller (sic!) Besonderen mit ihrem notwendigen Begriff, also der Inbegriff substantieller Wahrheit. Unter der Voraussetzung des individualisierten Charakters des Bewusstseins, also unter der Voraussetzung der Individualität des Besonderen als Subjekt, kann die Wirklichkeit nur Annäherung an die Idee sein, eine Annäherung, deren Rangordnung sich aus der Notwendigkeit der allgemeinen Existenzverwirklichung ergibt. Diese Notwendigkeit, eine Übereinstimmung zu erreichen, die sich faktisch nur als Grad der Annäherung - also als eine Identität, die gleichzeitig Nicht-Identität ist - verwirklichen kann, macht die Arbeit an der Identität zum Imperativ: Die Nation ist wirklich nur als Arbeit an der Nation oder wenn man will, als 'Kampf um die Nation'; der nationale Imperativ ist kategorisch." (Willms 1982: 68)
Die Argumentation ist auch in dieser ausführlichen Zitierung nicht ohne weiteres nachvollziehbar; ihre Elemente und ihr Ableitungszusammenhang müssen also rekonstruiert werden.
Willms beruft sich auf die philosophische Tradition des deutschen Idealismus, den er gleich in der Einleitung als einen "Höhepunkt menschlichen Denkens überhaupt" (a.a.O.: 25) gegen den "westlichen Liberalismus" der "Sieger von 1945" (a.a.O.) absetzt.
Geht es dem Idealismus nach Willms als Inbegriff "gründlichen Denkens" um ein "begreifendes Erfassen der Wirklichkeit“, so verharrt das Denken des "westlichen Liberalismus" auch in seiner demokratie- und vertragstheoretischen Vertiefung auf der Ebene bestreitbarer "Gesinnung" (a.a.O.: 27), die in der Pluralität von "Wertpositionen" nur die Fronten eines potentiellen Bürgerkriegs (vgl. a.a.O.:121) abstecken kann.
Diese Dichotomisierung zwischen "deutschem" und "westlichem" Denken – eine variantenreiche Prämisse der „Konservativen Revolution“ (Mohler) - kann heute wieder als Leitmotiv für Identitätssuche schon bis in das halb fröstelnd, halb bewundernd herumgereichte Bekenntnis des linken Literaten Thomas Schmid zum deutschen "Hang zum Absoluten" (vgl. Fetscher 1979:121) verfolgt werden. Charakteristisch für Willms ist jedoch die bei Schmid noch vermiedene Umwertung von Liberalismus und Pluralismus: beides wird ihm zum Synonym für Bürgerkrieg - eine radikale Umwertung, die unmittelbar an den Jungkonservatismus der Weimarer Republik anknüpft.
Die Suche nach einer Verbindlichkeit jenseits der Parteien eines potentiellen Bürgerkriegs führt über die philosophische, d.h. - hier zitiere ich wieder Willms - "denkende Erfassung und theoretische Konstruktion des Menschen als jenes Wesens, das als Gattung nur in individualisiertem Bewusstsein existiert; das folglich seine eigene Beschaffenheit (....) nicht anders als in einem theoretischen Verhältnis des individualisierten Bewusstseins oder des Einzelnen oder des Besonderen zum Allgemeinen der Gattungsexistenz verwirklichen kann." (A.a.O.: 29) Wirklichkeitserkenntnis hat demnach Ihren unverrückbaren Ausgangspunkt in der begrifflichen Erfassung der allem individualisierten Bewusstsein zugrundeliegenden Allgemeinheit gemeinschaftlicher Existenz.
Diese Einsicht ist nun keineswegs neu: Sie ist eine Reformulierung des klassischen Theorems vom Menschen als "zoon politikon", über dessen Erkenntniswert oder Leerformelhaftigkeit zu reflektieren hier nebensächlich ist. Wichtig ist, wie Willms die abstrakte Fassung dieses Theorems näher bestimmt. Der Schlüsselsatz, durch den das Verb "bestimmen" seine eigentümliche geschichtsphilosophische Bedeutung annimmt, wird ebenfalls noch in der Einleitung formuliert:"Wirklichkeit menschlicher Existenz bedeutet die Aufgabe der Verwirklichung menschlicher Existenz." (a.a.O.: 29)
Diese an Hegel orientierte Denkfigur soll es erlauben, aus der philosophischen Formulierung des Basistheorems die Bestimmung des Prozesses zu deduzieren, in dem die abstrakte Wahrheit des Theorems ihre konkrete Gestalt als zu erkämpfende Einheit bzw. Identität von Allgemeinheit und Besonderheit erst gewinnt. Wiederum unter Berufung auf Hegel versucht Willms nun, die philosophische Dignität der Denkfigur abstrakter und sich bestimmender Allgemeinheit in die profane Historizität des Staates hinüberzuretten. Die philosophische Streitfrage, ob das Hegelsche Denken auf die Finalität des staatlich Allgemeinen eingegrenzt werden kann, wird dabei gar nicht erst diskutiert. Im Unterschied beispielsweise zur Interpretation von Theunissen (1970: 71 f) beharrt Willms darauf, dass Individualität konkret nur in der Anerkennung des "politischen Subjekts" (a.a.O.: 43) Staat als zugleich abstrakte und historisch verwirklichte Notwendigkeit denkbar und möglich sei.
Das Medium dieser Anerkennung ist das Nationalbewusstsein. Es richtet sich - so Willms - auf die "Nation" als "lebendige Verwirklichung des Staatsbegriffs", als dessen "Konkretion in Zeit und Raum", "in den realen Beziehungen zu anderen Nationen" und "im lebendigen Bewusstsein der Bürger oder 'des Volkes"' (a.a.O.: 49). "Nationalbewusstsein" ist also "das Bewusstsein einer wirklich erfahrenen, prägenden Gemeinsamkeit, zusammengeschlossen mit der theoretischen Einsicht in deren allgemeine absolute Notwendigkeit" (a.a.O., 59).
Die theoretische Dialektik, die von ihrem abstrakten Ausgangspunkt - der Mensch als "zoon politikon" - über die Bestimmung des Gegensatzes von Individuum und Staat zur konkreten Nation führt, findet so im "Nationalbewusstsein" ihr säkularisiertes Trinitätserlebnis - sie wird historisch stillgelegt und selbst noch der Hoffnungen entkleidet, die Hegel in die preußische Bürokratie projizierte.
Wenn so theoretische Vernunft und konkretisierte "Substanz" erfahrbarer Wirklichkeit zusammenfallen, dann folgt aus "Nationalbewusstsein" konsequenterweise die Pflicht zur Aufklärung der noch nicht nationalbewussten Einzelnen. Und hier kann dann - folgt man Willms - je nach Adressat, entweder auf das "Schicksal" oder auf Kant zurückgegriffen werden - auf einen nationalistisch zurechtgestutzten Kant allerdings! Wo der "kategorische Imperativ" des Originals allenfalls als formales Prüfverfahren für die Verallgemeinerungsfähigkeit eines vorgeblich "nationalbewussten" Handelns konkreter Akteure einzusetzen wäre, wird in Willms Formulierung, der „nationale Imperativ" sei "kategorisch", ein bestimmtes, nämlich "nationalbewusstes" Handeln zur Messlatte für die vielfältigen Formen von "Abstraktheit, Dummheit, Intransigenz und Gewaltsamkeit des verweigernden Verhältnisses zu Staat und Nation." (A.a.O.: 67)
Kant wird so als intellektuelle Legitimationsressource eines "Kampfes um die Nation" herangezogen, der vierzig Seiten später wesentlich handfestere Formen erhält:
"Die Einsicht in die Notwendigkeit der Idee (erg.: der Nation) bringt den Einsichtigen zur Pflichterfüllung, dem im Kreis seiner Partikularität Befangenen muss die Nation versuchen, die Trivialität seines Daseins durch nationales Bewusstsein oder Nationalgefühl zu überhöhen, dem Widerstrebenden versucht sie Begeisterung zu vermitteln, dem dumpfen Unbewusstsein vermittelt sie emotionale Bewegung und den sich bewusst Verweigernden gibt sie der öffentlichen Verachtung preis." (A.a.O.: 104)
Den derlei Traktierten muss nicht nur an dieser Stelle unbegreiflich bleiben, was der "Kampf um die Nation" für konkretes Situationshandeln im Einzelnen bedeutet. Konditioniert wird im "Nationalbewusstsein" Willmsscher Observanz eine irrationalisierte Attitüde flexibler Folgebereitschaft, die mit den Wortkaskaden aus dem Steinbruch der Geschichtsphilosophie Wahrheitsansprüche formuliert. Anders ausgedrückt - ich zitiere Marquard - :
"Die Wahrheit der Geschichtsphilosophie der werdenden Identität ist nicht die werdende Identität, sondern die sterbende Identität." (Marquard 1979: 361)
"Sterbende Identität" als für die Praxis bewusst einkalkulierte Rücknahme des geschichtsphilosophischen Anspruchs einer in individueller Freiheit vollzogenen rationalen Einsicht in die Notwendigkeit konkreter gesellschaftlicher Selbstverwirklichung.
Was diese Rücknahme für diejenigen bedeuten kann, die sich der vorgeblich einzig verbindlichen Idee des Nationalen bewusst verweigern, lässt Willms – "öffentliche Verachtung" antizipierend - in aggressiv formulierten Denunziationen ahnen. Die Ernennung von Karl Raimund Popper zum "Hohepriester" bzw. "Generalagenten" eines "philosophischen Defaitismus" (Willms 1982: 102) muss dabei noch als vergleichsweise freundliche Verbalinjurie bezeichnet werden.
Die Motivation für diese Aggressivität und ihre nur notdürftige philosophische Sublimierung findet man erst weit hinten in dem hier besprochenen Buch:
"Die denkhemmende und Denkhemmungen erzeugenden oder eher rührenden Versuche, den Westdeutschen eine Art sekundären 'Verfassungspatriotismus' anzumessen (Dolf Sternberger, Kurt Sontheimer), können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei Demokratie und Konstitution stets nur um etwas gehen kann, was man 'hat', nicht aber um das, was man der Substanz nach 'ist'. Diese Ersatzfestlegung auf ein 'Haben' unter Vernachlässigung des eigenen 'Seins' lag und liegt im Sinne der Sieger von 1945, die uns dieses Haben 'gebracht' haben." (A.a.O.: 273)
Dieses Fazit wird nun ohne zusätzliches geschichtsphilosophisches Rankenwerk zum Ausgangspunkt der Identitätsüberlegungen eines weiteren Vertreters der national- oder jungkonservativen Rechten.
II. "Nationale Identität als Fluchtpunkt 'konkreter Lageanalyse'"
Das Credo dieser Perspektive, in der - mit Abstrichen - Autoren von Mohler bis Walser sich zu Wort gemeldet haben, wird am prägnantesten von Hans-Joachim Arndt formuliert. In seinem Buch über "Die Besiegten von 1945“, Berlin 1978, lesen wir:
"..... jegliche Geschichtsphilosophie, Normativität oder Moralität, als unter Verbot der Hinterfragbarkeit stehende Prämisse in politisches oder wissenschaftliches Tun eingebracht, hat für die Wahrheitsfindung, also für die Urteilsbildung, also für die Lageanalyse in Politik wie Wissenschaft zerstörerische Effekte." (A.a.O.: 419).
Die "prinzipielle Antizipation eines Zustandes des Wesens-Begriffen-Habens" bezeichnet Arndt als "'essentialistische' Fehlerscheinung" und zustimmend zitiert er die dort allerdings gegen Habermas gerichtete Kritik von Helmut Girndt: "Es gibt und kann nicht geben eine vermittelbare Lehre von der Fähigkeit der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine" a.a.O.: 355). In Ergänzung seiner epistemologischen Problematisierung geschichtsphilosophischer Traditionen wird schließlich auch der Geschichtswissenschaft entgegengehalten:
"Die typische 'Modernität' der neuzeitlichen Geschichte ... scheint uns darin zu liegen, dass es spätestens heute (...) immer unfruchtbarer, deshalb unerlaubter wird, beim Erzählen von Geschichte schlicht und naiv von einst oder vorher 'gegebenen', 'klassischen', 'üblichen', 'traditionellen', 'normalen' politischen Subjekten oder 'Strukturen' auszugehen und deren (fortführende) Identitätsgeschichte zu berichten." (Arndt 1978:42)
Der Skeptizismus dieser Positionsbestimmung führt nun konsequenterweise zu einer starken Betonung der historisch-situativen Kontingenz politischen Handelns. Politisches Handeln kann nicht als Derivat geschichtsphilosophischer "Generalien" begriffen, sondern lediglich als Zusammenspiel identitätsrelevanter geschichtlicher Prägungen und risikobewusster Entscheidungen von - so Arndt - "konkrete(n) politischen Subjekte(n) in konkreten Lagen" (Arndt 1984: 1) empirisch nachgezeichnet werden.
Was heißt nun aber "konkret"? Diese Frage kann nach den Erfahrungen des vorhergehenden Abschnittes nur zur Vorsicht mahnen. Dennoch scheint sie unberechtigt: Arndt erklärt den Begriff alltagssprachlich (Arndt 1978: 351). Versucht man aber, die Anschlussfrage zu beantworten, wie die im alltagssprachlichen Sinne "konkreten politischen Subjekte" zu identifizieren seien, tauchen jedoch Zweifel auf: Der Subjektbegriff bezieht sich ausdrücklich auf "Kollektivsubjekte" als Kürzel für "historische und politische Täter-Kollektive wie Staaten, Völker, Nationen, Klassen" (a.a.O.: 50).
Auch diese Zweifel wären zunächst noch mit politikwissenschaftlichen Hintergedanken über Organisation, Repräsentation und Institution zu überspielen. Unmissverständlich erklärt Arndt jedoch:
"Die Frage: 'Wer ist das politische Subjekt?' oder 'Was für Menschen bilden es?' muss beantwortet sein, bevor dieses Kollektiv überhaupt die Organisations- und Verfassungsfrage aufwerfen kann." (a.a.O.: 58)
Konsequent wird schließlich die hier behauptete Trennbarkeit zwischen "Identitäts-" und "Verfassungsfragen" in die historisch einigermaßen belastete dichotomische Abgrenzung von "Substanz-" und "Systemfragen" (a.a.O.: 86) überführt. Zu dieser Abgrenzung passen dann in der Tat die an verschiedenen Stellen zu findende Polemik gegen den Nominalismus moderner Wissenschaft (vgl. z.B. a.a.O.: 54) und die in einer Fußnote versteckte Ankündigung, das Wort "Essentialismus" müsse wohl mit einer Prise Salz genommen werden" (a.a.O.: 49). Durch die Hintertür der Suche nach einer letztlich ausschlaggebenden Existenzdeutung, die allem Institutionalisierten, Organisierten oder Verfassten vorausgeht, kommen erneut Zerfallsprodukte geschichtsphilosophischen Denkens zur Geltung. Offenkundig kann auch eine Lageanalyse diesen Zuschnitts nicht auf essentialistische Prämissen verzichten, die Arndt an anderer Stelle allesamt erst einmal in Frage stellen möchte.
Die Folge dieser Ambivalenz ist eine schillernde Verwendung von Schlüsselbegriffen: Was ist mit "Repräsentanten" gemeint, wenn von "konkreten Handlungen, sei es der ganzen Kollektive oder ihrer jeweiligen Repräsentanten, 'Herrscher' oder 'Eliten"' (a.a.O.: 61) die Rede ist? Die relativierenden Anführungsstriche für die Parallelbegriffe "Herrscher" und "Eliten" legen eine Deutung im Sinne von Carl Schmitt nahe - dies wiederum aber nur, wenn man die spätere Bestimmung der "Besiegten von 1945" als Niederlage eines "Volkes", das "sich als homogen begreifen konnte" (a.a.O.: 70), rückzukoppeln weiß (vgl. auch: a.a.O.: 405). Wie lässt sich weiterhin der Identitätsbegriff mit Inhalt füllen, wenn er einmal als "Substanzfrage" (a.a.O.: 86), einmal im Sinne einer Ableitung "aus geschehener und erzählter Geschichte" (a.a.O.: 423) und dann wieder schlicht als "Jeweiligkeit" (a.a.O.: 74) umschrieben wird?
Im Hintergrund dieser Unbestimmtheiten findet sich schließlich noch ein paralleles Schwanken zwischen einem konsensualistisch-intersubjektiven Objektivitätsbegriff und einer angedeuteten Suche nach einem substantialistischen Wahrheitsbegriff. Diesen Ungereimtheiten kann hier nicht weiter nachgegangen werden.
Wichtig ist, dass Arndt in der ihm eigenen Terminologie ein Analyseelement der Identitätsdiskussion betont, das im Alltagsverständnis von "Identität" nicht eben häufig anzutreffen ist: den Hinweis auf die Spannung zwischen gesellschaftlich "verfasster" Verhaltensnormalität und risikobehaftetem Situationshandeln. Das "Risiko" scheint mir allerdings weniger in der – so Arndt – "entschlossenen" Tat als in der Interaktion vieler "Täter" bzw. Akteure begründet zu sein. Erst Interaktion schafft Risiken – Risiken eben auch mit dem Ergebnis von "Kern-Ereignissen", die so niemand gewollt hat. Solche Ereignisse sind immer zugleich auch Risiken für "Identität", wenn man darunter zunächst nur einen tradierten Kernbestand von sinnhaft interpretierten, wie auch immer konservierten und aktualisierten Handlungsorientierunqen versteht. Von daher ist die Arndtsche These einer Gefährdung auch "kollektiver Identitäten" unschwer nachzuvollziehen.
Die Ablehnung der geschichtsphilosophischen Denkfigur von der "werdenden Identität", in die der Risikocharakter bestimmter "Kern-Ereignisse“ gar nicht erst eingeht, verleitet Arndt jedoch dazu, die Beschreibung "kollektiver Identität" letztlich bis in die begriffsrealistisch-inhaltsleere "Substanz"verteidigung des Namens eines Kollektivsubjekts (vgl. a.a.O.: 406) zurückzunehmen. Andererseits - und das scheint letztlich das Dominante in Arndts Zugriff zu sein - ist die "Lebendigkeit" solcher Namen doch wieder nur als historische Kontingenz zu bestimmen. Das heißt dann aber auch, dass die jeweiligen "Kern-Ereignisse" die immer wieder nur relativ zu beantwortende Testfrage nach der konkreten Bedeutung einer behaupteten oder geglaubten situationsübergreifenden Identität aufwerfen.
Wenn schließlich solche Ereignisse selbst als Kristallisationskerne sinnhafter Identitätsinterpretationen begriffen werden (vgl. Gerdes 1985: 35ff), dann löst sich auch das unbestimmte Substanzempfinden von "kollektiver Identität" auf - und zwar in eine jeweils aktualisierte Dialektik von historischer Kontingenzerfahrung und wandelbaren Identitätsinterpretationen. Und hier ist es dann eine empirische und keine „Substanz“frage, welche Identitätsinterpretation unter welchen historischen Umständen die Chance zur Institutionalisierung erhalten bzw. machtbewehrt durchgesetzt hat.
Für eine empirische Fragestellung dieser Art gibt es kein normatives Kriterium, den Identitätswert "Deutsche als 'Besiegte von 1945‘“ von dem Identitätswert "Deutsche" als – meinetwegen – "Teilstaatdemokraten von 1949" abzuheben. Wer diese Differenz als eine von "Substanz" und "System" zu kennzeichnen versucht, müsste – im Medium wissenschaftlicher Diskussion – erst einmal die wissenssoziologische Differenz zwischen einem Substanz- und einem System-orientierten Nachdenken über Gesellschaft begründen. Die politische Wirkung dieser Differenzmarkierung ist allerdings vor dem Hintergrund des denunziatorischen Kontextes eines nationalkonservativen Systembegriffs um ein Vielfaches „bürgerkriegsträchtiger“ (Willms), als sie den kritisierten Gegenpositionen je unterstellt werden könnte.
Eine als lageanalytisch vorgestellte Grundsatzkritik der bundesrepublikanischen Politik und Politikwissenschaft, die in ihren "substantialistischen" Prämissen die "Kern-Ereignisse" von 1949, 1954, 1961, 1968 usw. einfach nicht zur Kenntnis nimmt, dementiert ihre analytische Seriosität. Sie drückt allenfalls Trauer um vermeintlich verpasste politische Möglichkeiten aus.
Von sozialen Bewegungen wissen wir, dass eine solche Trauer und der Versuch einer politischen Revitalisierung verschüttet geglaubter Möglichkeitshorizonte vergangener Geschichte zu wirksamen Agenzien sozialen und politischen Wandels werden können. Der Komplexität heutiger Gesellschaften wird man jedoch mit den Kategorien der Analyse sozialer Bewegungen nicht gerecht. An diesem Punkt gewinnt die Identitätsdiskussion nun eine Richtung, die in der Perspektive der bisher besprochenen Ansätze von vornherein ausgeschlossen ist.
III. "Kollektive Identität zwischen 'Lebenswelt' und 'System'"
Aus Anlass der Verleihung des Hegel-Preises 1973 durch die Stadt Stuttgart hielt Jürgen Habermas eine Rede, die sich die Frage stellte: "Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?" Sie wurde in überarbeiteter und erweiterter Fassung 1974 gedruckt. Obwohl sie als ein in sich abgeschlossener Beitrag zur Identitätsdiskussion angesehen werden kann, verweist sie auf eine analytische Konzeption, die erst seit drei Jahren (Habermas 1981) voll ausgearbeitet vorliegt. Die Darstellung und Kritik des älteren Beitrags muss also zumindest punktuell anhand der späteren Publikationen überprüft oder ergänzt werden.
Der Ausgangspunkt auch der Habermasschen Argumentation ist das bereits bekannte Basistheorem vom Menschen als "zoon politikon" (vgl. Habermas 1974: 27/28). In der Ausarbeitung dieses Theorems werden jedoch zunächst zwei Stufen der personalen Identitätsbildung unterschieden. Die "konventionelle" oder "symbolisch gestützte Rollenidentität" sieht Habermas in Analogie zur Hegelschen Vorstellung von "Selbstbewusstsein". Obwohl er die Unterschiede dieser Vorstellung zum empirischen Ansatz des symbolischen Interaktionismus später deutlich herausgearbeitet hat, wird Ich-Identität hier noch als das synthetisierte Produkt sprachlich vermittelter Interaktionserfahrungen gesehen, die das Individuum auf sein subjektives Bewusstsein zurückspiegelt. Die auf dieser Stufe noch dominante Bindung an "bestimmte (...) Traditionen, an besondere (...) Rollen oder Normen" (a.a.O.: 29) wird nun auf der postkonventionellen Stufe generalisiert: Das Erwachsenen-Ich erhebt die "interaktive Reziprozität, die in der Rollenstruktur angelegt ist, selber zum Prinzip“ (a.a.O.: 30). In diesem aus der Entwicklungspsychologie gewonnenen Modell wird Ich-Identität – um eine gelungene Formulierung von Bausinger aufzunehmen – zum "Integral der Identifikationen" (Bausinger 1978: 205) mit wechselnden Bezugsgruppen – ein Konstrukt, um das sich eine inzwischen fast unüberschaubare Literatur rankt, das aber gleichwohl von starken normativ-pädagogischen Prämissen geprägt ist. Habermas selbst weist auf diese Normativität hin – das macht es leichter, an dieser Stelle auf kritische Anmerkungen zu verzichten.
Wichtig ist nun, dass er die abstrakte Generalisierungsfähigkeit, die eine entwickelte Ich-Identität auszeichnen soll, als Bindung an "universalistisch zu rechtfertigende Normen" (a.a.O.: 32) charakterisiert. Diese Gleichsetzung erlaubt es ihm, das entwicklungspsychologisch prozessualisierte Identitätsproblem sowohl kultur- als auch philosophiegeschichtlich an die bekannte Trias der "Differenzierung zwischen Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem" (a.a.O.: 35) anzukoppeln. Eine ausgebildete Ich-Identität ist mit dem historischen Siegeszug der Weltreligionen, insbesondere des Christentums und der darauf aufbauenden Kulturmuster, auf die Transzendierung partikularer Normen verwiesen – ein Gedanke, dessen Prämisse auch den "kategorischen Imperativ" Kants trägt und der konsequenterweise die Negation weltgesellschaftlich besonderter "kollektiver Identitäten" einschließt.
An dieser Stelle nun setzte sich Hegels Begriff des "konkret Allgemeinen" gegen den unhistorisch-abstrakten Universalismus der Aufklärung ab. Dem korrespondiert in Habermas' Interpretation die Notwendigkeit, mit der Ich-Identität an die "kollektive Identität" konkreter historischer Gruppen gebunden bleibt (a.a.O.: 32 f). Gleichzeitig löst sich Habermas hier aber von dem philosophischen Versuch Hegels, das absolut oder universal Notwendige in der Vermittlung des konkret Allgemeinen als eine nicht-kontingente Hervorbringung subjektiver Vernunft zu denken.
Hegel selbst hatte in der "Rechtsphilosophie“ (§ 270) listigerweise darauf hingewiesen, dass die philosophische Einsicht in die Notwendigkeit des Vernunftstaates nicht allen gegeben sei. Ersatzweise könne diese Einsicht auch durch Formen religiöser Vereinheitlichung abgestützt werden (vgl. a.a.O.: 49 f). Hier hatte Willms, wie wir gesehen haben, Hegel beim Wort genommen. Habermas setzt dagegen den entscheidenden Satz:
"Ich vermute, dass die Frage nach den Möglichkeiten einer kollektiven Identität überhaupt anders gestellt werden muss: solange wir nach Ersatz für eine religiöse Lehre suchen, die das normative Bewusstsein einer ganzen Bevölkerung integriert, unterstellen wir, dass auch moderne Gesellschaften ihre Einheit noch in Form von Weltbildern konstituieren, die eine gemeinsame Identität inhaltlich festschreiben. Davon können wir nicht mehr ausgehen." (a.a.O.: 51)
Der wichtigste Befund, der gegen die Vorstellung einer philosophisch legitimierbaren oder ersatzweise quasi-religiösen Vereinheitlichung moderner Großgesellschaften geltend gemacht wird, ist die historische Ausbreitung und gesellschaftliche Institutionalisierung objektivierenden und schließlich funktionalistischen Denkens.
Dieses Denken wird seinerseits als Produkt und zugleich Symptom einer Evolutionssequenz struktureller Differenzierung angesehen. Strukturelle Differenzierung kann mit der Vorstellung von "kollektiver Identität" nur dann eingefangen werden, wenn unterstellt wird, dass die Handlungsorientierungen individueller Gesellschaftsmitglieder sich im Bezug auf ein für alle denkbaren Handlungssituationen gültiges Normen- und Wertesystem ausbilden. Dem steht die empirische und theoretisch verarbeitete Erfahrung von der Verselbständigung weder kulturell noch normativ oder intentional beherrschter Handlungszusammenhänge entgegen (vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 179).
Habermas fasst diese Verselbständigung als historischen Prozess, der zunächst zur Auflösung einheitsstiftender Weltbilder, dann zu einem Auseinandertreten von System und Lebenswelt und schliesslich zu einer "Kolonialisierung der Lebenswelt durch ein verselbständigtes ökonomisches und administratives System"(Habermas 1979: 18) geführt habe. Die Fragmentierung und Verflüssigung traditionaler "kollektiver Identitäten" finde ihren Höhepunkt in der drohenden Zerstörung der "kommunikativen Infrastruktur jeder Form humanen Zusammenlebens." (A.a.O.: 24)
Die theoretisch begründete Notwendigkeit, am Konzept der Identität festzuhalten, findet angesichts dieses Befundes einen Rückhalt nur noch in der Deutung der empirischen Phänomene des gesellschaftlichen Wertewandels und des subkulturellen Wachstums basisorientierter „Widerstands- und Rückzugsbewegungen“ (Habermas 1981, Bd. 2: 582): „Identitätsbildung“ scheint entsprechend nur noch als „kontinuierlicher Lernprozess“ (Habermas 1974:66) denkbar zu sein. "Kollektive Identität" wird so zur revisionsfähigen Hervorbringung kommunikativen Handelns: strukturiert und diszipliniert allenfalls durch das vernünftig Allgemeine grammatischer Rede, eingefangen und zugleich gefährdet in der Besonderung subkultureller Lebenswelten, getragen schließlich von subjektiven Strategien einer Befreiung aus der Enge funktionalistischer Vernunft.
Deutlich erkennbar ist, dass Habermas bei aller Entschlossenheit, geschichtsphilosophischen Ballast abzuwerfen (vgl. Habermas 1981, Bd. 2: 562), an der Vorstellung eines historisch ausgewiesenen kommunikativen Rationalitätsniveaus festhält, das sich der beliebigen Relativierung entzieht. Dem steht jedoch eine eigentümliche Ambivalenz in der Beurteilung empirischer Entdifferenzierungsvorgänge in Kultur, Politik und Wirtschaft (vgl. Habermas 1979: 35) gegenüber, die auf die Grenzen nicht nur einer klaren Unterscheidung zwischen regressiven und emanzipatorischen Prozessen, sondern auch eines entinstitutionalisierten Begriffs von "kollektiver Identität" aufmerksam macht.
An diese Ambivalenz müsste eine eigenständige politikwissenschaftliche Reflexion über "kollektive Identität" anknüpfen, die die geschichtsphilosophische Erbschaft des Identitätsbegriffs weder in Legitimation für die manipulative und repressive Durchsetzung von "Wahrheit", noch in kontingente Dezision über „substantielle“ historische Daten und ebensowenig in das kontrafaktische Vertrauen auf die Rationalität kommunikativen Handelns auflöst. Die political-culture-Forschung hat hierfür bisher allenfalls Vorarbeiten geleistet. Die generelle Distanz der Politikwissenschaft zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen erklärt zu einem großen Teil ihre Blindheit gegenüber den durch die neuen sozialen Bewegungen ausgelösten gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen.
Ich fasse zusammen:
Die letzten 15 Jahre sind nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in allen westlichen Industriestaaten durch eine sprunghafte Zunahme anomischer Verhaltensphänomene gekennzeichnet. Der Begriff "Anomie" setzt einen Begriff von "Normalität" voraus, an dessen Definition die gegenwartsbezogenen Sozialwissenschaften nicht nur deskriptiv, sondern auch normierend beteiligt sind.
Wo anomische Phänomene nicht mehr als Pathologien marginalisiert werden können, sondern sich zu kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen auswachsen, verändert sich auch auf der abstrakten Ebene sozialwissenschaftlicher Reflexion das Spektrum allseits anerkannter Normalitätsdefinitionen. Dies ist eine Chance für die Formulierung unkonventioneller, aber auch für die Sichtung und Revitalisierung sterbender Gesellschaftstheorien.
Der Rückgriff auf den Begriff "kollektive Identität" ist eindeutig traditionsorientiert. Unterschiedlich sind die Kreativität und die Intensität, mit denen dieser Begriff an die Selbstdeutungen derjenigen zurückgekoppelt wird, die jeweils ein Kollektiv bilden, dem Identität zugesprochen wird.
Die drei referierten Positionen sind unter diesem Prüfkriterium eher durch das profiliert, was ihr Konzept aus der Analyse ausspart, als durch das, was sie zur Erklärung oder Deutung empirischer Verhaltensformen beitragen. Willms unterstellt voluntaristisch die Kontingenz einer historischen Entwicklung, die die Soziologie seit Max Weber im Begriff des "institutionalisierten Individualismus“ (Parsons; vgl. Schluchter 1980:128) abstrahiert hat. Sein Konstrukt von "kollektiver Identität" setzt auf die reflexive Selbstnegation von Ich-Identität im Nationalbewusstsein. Ausgeblendet wird das Problem, wie der Staat als Nation zum Identifikationsobjekt einer säkularisierten Religiosität werden soll, wenn er sich in seiner alltäglichen Erfahrbarkeit längst in eine situative Relativität kontingenter zweck- und wertrationaler Entscheidungsinterpretationen geflüchtet hat. Der zynische Intellektualismus, mit dem Willms für die Praxis auf die Manipulierbarkeit existentieller Handlungsorientierungen vertraut, findet seine Grenzen in der konfliktiven Konkretisierung bürokratisch-administrativer Zweckrationalität. Eben diese Entwicklung hat aus dem Abstraktum diffuser Massenloyalität konkrete Legitimationsprobleme werden lassen. Der unterstellte Identifikationswert "Großer Zapfenstreiche" und ähnlicher Formen symbolischer Politikinszenierung hilft hier kaum weiter.
Arndts Suche nach einem substantiellen Identitätskern von "Kollektivsubjekten“ schließt von vornherein Fragen nach der Zusammensetzung, Willensbildung und institutionellen Verfasstheit historischer "Täter-Kollektive" als sekundär aus. Von Interesse sind für den "Lageanalytiker" lediglich kontingente historische Konstellationen, in denen "Kollektivsubjekte" auf die Probe ihrer Existenz gestellt werden und aus denen sie angeblich das Bewusstsein ihrer Existenz ableiten. Sloterdijk hat diesem Politikbegriff unter Hinweis auf Weimarer Erfahrungen eine - ich zitiere - "kalte Romantik der großen strategischen Blicke" (Sloterdijk 1983, Bd. 2: 831) bescheinigt. Auch für die Revitalisierung einer lageanalytischen Perspektive trifft zu, was er ergänzend konstatiert: "Dass zur selben Zeit Politik tendenziell immer mehr in Verwaltung überging, blieb den vom militärischen Muster geprägten Politikern weitgehend fremd." (A.a.O.: 831). Dass diese Bürokratisierung von Politik nicht nur die innere Konstitution von "Kollektivsubjekten" prägt, sondern auch in den internationalen Beziehungen den Bereich der spektakulären Verteidigung nationaler Existenzinteressen in symbolische Inszenierungen oder blocksystemische Konfrontationen abgedrängt hat, macht auf die Grenzen einer lageanalytischen Perspektive aufmerksam. Die Politikwissenschaft hat versucht, mit dieser Entwicklung kognitiv und analytisch Schritt zu halten. Nicht von ungefähr ist das Resultat eine kaum noch überschaubare Spezialisierung auf immer enger gefasste policy-Bereiche. Die kognitive Komplexität der darin eingefangenen Politik ist lageanalytisch kaum zu reduzieren, sie ist allenfalls zu negieren.
Von daher gewinnt Habermas' Auslagerung des Problems "kollektiver Identität" aus dem Bereich politisch-administrativen Entscheidungshandelns in den Bereich politischer Willensbildung an Plausibilität. Autonomisierte, von institutionalisierten Prägungen sich absetzende Identitätsprojektionen werden ihm zum Medium des Widerstands gegen die "Kolonialisierung der Lebenswelt". Die Pointe liegt nun aber darin, dass sich gerade in den Bereichen, die Habermas als Anschauungsmaterial für sein Konzept dienen, keineswegs der unterstellte Modus rationaler Identitätskonstruktion eingestellt hat. Die Kontingenz permanenter Lernprozesse mündet nicht eben selten in eine hektische Suche nach verwertbaren Traditionalismen, selbst solchen religiösen Hintergrunds. Und es ist noch keineswegs ausgemacht, ob diese Suche zu neuen Formen einer produktiven Aneignung verschütteter Möglichkeitshorizonte von Geschichte führt.
Von einer produktiven Aneignung könnte erst dann gesprochen werden, wenn Identitätssuche nicht mehr auf die Ausblendung und einfache Negation ganzer Bereiche institutionalisierter Wirklichkeit fixiert bliebe. Möglichkeiten, diese Fixierung aufzubrechen, werden in keiner der drei referierten Perspektiven angedeutet. "Kollektive Identität" wird zum Phantom einer Suche nach Ganzheiten, die dem Selbstlauf ökonomischer, technischer und politisch-administrativer Handlungsrationalität äußerlich bleibt. Der mainstream der Politikwissenschaft täte gut daran, dieser Suche nach Ganzheiten mit größerer Aufmerksamkeit und kultursoziologisch geschulter analytischer Sensibilität zu begegnen!
Zitierte Literatur
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