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Produktion und Reproduktion sozialer Strukturen (1984)

 Offenkundig immer noch ein aktuelles Thema:

 

Produktion und Reproduktion sozialer Strukturen –

Randnotizen zum Tagungs­thema

 

Refe­rat zur Gründungstagung der Sektion "Politische Soziologie" in der DVPW:Politische Soziologie zwischen empirischer Sozialforschung und Gesell­schafts­theorie – Eine Debatte über Grundlagen, Probleme und aktuelle Situa­tion des Fachgebietes.“  Marburg, Nov./Dez. 1984

 

Vorbemerkung

Michael Grevens Anregung, die Gründungstagung der Sektion "Politische Soziologie" für eine "Debatte über Grundlagen, Probleme und aktuelle Situation des Fachgebietes" zu nutzen, setzt eindeutige Prioritäten. Ich vermute allerdings, daß diese Setzung die Reihenfolge der Überlegungen umkehrt, die zu dieser Tagung geführt haben: Wenn es Zeit wird, sich erneut über Grundlagen zu verständigen, dann hat dies zweifellos mit Problemen zu tun, auf die spezifisch politsoziologische Erkenntnisansprüche heute sto­ßen. Politische Soziologie - traditionell begriffen als die Krisenwissenschaft schlecht­hin - hat selbstreflexiv sicherlich auch für solche Geltungsprobleme ein feineres Senso­rium entwickelt, als es der politikwissenschaftlichen Traditionslinie der Staatswissen­schaften mitgegeben ist. Für die letzten Jahre läßt sich zumindest feststellen, daß die Bereit­schaft von Politologen, sich auf solche Diskussionen einzulassen, mit deren Nähe zur Soziologie positiv korreliert.

Wenn ich mich in den folgenden Ausführungen an die von Greven vorgeschlagene Rei­henfolge halte, dann unterstelle ich, daß es wissenschaftssoziologisch immer gute Gründe gibt, sich in der Konfrontation mit situativen Problemen zunächst einmal der eigenen Tradition zu vergewissern. Die kritische Absicht, die damit verbunden ist, sei zu­nächst - mit Seitenblick auf den folgenden Referenten - in der Überschrift des ersten Abschnitts angedeutet.

 

I.   Politische Soziologie: Paradigmatische Orientierung und forschungsprakti­sches  Alltagsbewußtsein1)

"Paradigmen" sind - im ursprünglichen Sinne Kuhns (19794, Kap. V) verstanden - in wissenschaftlicher Sozialisation als "selbstverständlich" vermittelte Analyseorientierun­gen, die sich gegenüber der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Theorien, Ansätze und Forschungsmethoden als eigentümlich resistent erweisen. Fragt man jenseits der im Titel dieser Tagung angedeuteten Dichotomisierung zwischen "empirischer Sozial­forschung" und "Gesellschaftstheorie" nach einer paradigmatischen Grundorientierung der Politischen Soziologie, so wird man sie - reichlich abstrakt - zunächst in einer weit­gehenden Abgrenzung gegenüber etatozentrischen Perspektivverengungen finden. Lenk konkretisiert diese Abgrenzung, Stammer interpretierend, mit den folgenden Wor­ten:

"Politische Systeme sollen im Hinblick auf ihr Bestimmtsein durch die jeweiligen Gesell­schaftsstrukturen analysiert werden. Man könnte diese Perspektive als die Umkehrung jener der tradierten Allgemeinen Staatslehre begreifen: Lag dort der Nachdruck auf dem staatli­chen Institutionengefüge und den Staatsorganen, von denen her soziale Beziehungen als darunter subsumierbare erschienen, so stehen in der Politischen Soziologie nicht so sehr die Entscheidungen im Vordergrund, die ein politisches System liefert (output), sondern die Willensbildungsprozesse, die zu bestimmten Entscheidungen in demokratisch verfaßten Gesellschaften führen (input)." (Lenk 1982: 11)

Dieser Rekurs auf die disziplingeschichtlichen Wurzeln der Unterscheidung zwischen einer "policy"- und einer "politics"-Orientierung von Politikwissenschaft (vgl. dazu: Rohe 1978:62 ff, Böhret et al. 1979:25 ff, Jann 1981:40 ff) könnte zu dem voreiligen Schluß verleiten, daß der Politischen Soziologie heute allenfalls die Restreservate bleiben, die ihr vom mainstream einer weithin auf die policy-Perspektive ausgerichteten Politikwis­senschaft eingeräumt werden.

Voreilig ist dieser Schluß, weil die säuberliche Abgrenzung zwischen einer soziozentri­schen politics- und einer etatozentrischen policy-Orientierung spätestens seit Ende der 60er Jahre durch die Debatten über konkurrierende makrosoziologische Integrations- bzw. Ordnungsmodelle von Staat und Gesellschaft ("polity") überlagert wurde (vgl. dazu Lenk 1972: 40ff). Diese Debatten sind inzwischen selbst historisch geworden und las­sen sich heute z.T. nur noch mit Mühe hinter den unterschiedlichen Akzentsetzungen innerhalb einer generalisierten Präferenz für die Analyse materieller Politik erahnen.

Am deutlichsten werden diese Akzentuierungen dort, wo sich policy-Analysen mit der aktuellen Diskussion über den Neo-Korporatismus verbinden und dabei erneut auf das Grundsatzproblem der (analytischen) Trennung von Staat und Gesellschaft stoßen.

Soziozentrische Positionen interpretieren den im Korporatismus institutionalisierten Fu­sionsprozeß aus der Perspektive eines dynamischen Gesellschaftsmodells als reak­tiven Versuch der politischen Stilllegung sich ungesteuert reproduzierender Gesellschaftskonflikte. Etatozentrische Positionen unterstreichen demgegenüber diejenigen Elemente dieses Prozesses, die als aktive Ausdehnung der institutionellen Rationalität des politisch-administrativen Systems auf vorher unkoordinierte, aber stabile Segmente gesellschaftlicher Interessenvermittlung verstanden werden können (vgl. dazu: Ebbig­hausen 1981: 194ff). Zweifellos kann heute von einer Dominanz der letzte­ren Interpre­tationslinie ausgegangen werden, obwohl es hier eine staatstheoretische Grauzone nicht eindeutig zuzuordnender, z.T. auch oszillierender, Positionen gibt.

Argumentiert man auf der Basis dieser idealtypischen Dichotomisierung weiter, dann stößt man auf das Phänomen, daß eine zweite ldentitätsmarkierung der Politischen So­ziologie ihren Träger gewechselt hat: Hatte sich die ältere Politische Soziologie ge­gen­über den institutionalistischen Staatswissenschaften durch eine betont prozeßpoli­ti­sche Analyseorientierung (vgl. Lenk 1982: 12) abgegrenzt, so ist der Strukturalis­mus als theoretischer Überbau institutionalistischen Ordnungsdenkens heute eindeutig der Domäne der Politischen Soziologie zuzurechnen. Diese These muß allerdings, um Miß­verständnissen vorzubeugen, präzisiert werden.

Wenn hier prozeßpolitisches und strukturalistisches Denken einander gegenübergestellt werden, dann als Reflex auf die weitgehende Verbannung von situativ-voluntaristischen Elementen aus den dominanten Erklärungsmodellen sozialen Wandels. Während die "Klassiker" der Politischen Soziologie - weniger deutlich bei Marx als bei Weber2) -sozi­alen Wandel noch aus der Dialektik von intentionalem Handeln konkreter Akteure und zweckrationaler Vereinheitlichung institutionalisierten Verhaltens verstanden hatten, hat sich im mainstream der Politischen Soziologie unterdessen eine Handlungstheorie au­ßengeleiteten, "adaptiven Verhaltens" (vgl. Naschold 1970: 46) durchgesetzt, die bis heute das forschungspraktische Alltagsbewußtsein bestimmt.

Die Thematisierung prozeßpolitischer Kontingenzen gesellschaftlicher Willensbildung geriet dabei zum Derivat funktionalistischer Modelle von System- und Sozialintegration einerseits, historisch "eingefrorener" Schichtungsmodelle andererseits. Voreilige Pau­schalisierungen wie die, daß der "Entstehungsvorgang politischer Themen nicht als sinnvolles Handeln oder als interessenrationale Strategie irgendeines Akteurs zu be­greifen" (Offe 1975: 160) sei, sind typisch für die in den 70er Jahren kulminierende kog­nitive Desensibilisierung gegenüber dem Problem des politischen Voluntarismus. lm Argumentationsmuster isomorph, von daher nicht minder typisch, ist auch die habituali­sierte Ableitung empirischer Formen politischer Beteiligung und Willensbildung aus den Konstellationen theoretisch konstruierter Sozialmilieus und ihrer Verhaltensag­gregate, mit der die Wahlforschung das bei den Krisentheoretikern bald entdeckte Defizit an "historisch-empirischer Forschung" (Ebbighausen 1981: 173) auszugleichen anbot. Zu­mindest hilfsweise wird bis heute auf dieses Angebot zurück­gegriffen, so z.B. in der weitverbreiteten Übernahme des positionalen Konstrukts von den "neuen Mittelschich­ten" oder des "strukturellen Dispositionsbegriffs” (Pappi 1979: 465) verhaltensrelevanter "cleavages".

Die "Legitimations"-, "Unregierbarkeits"- und "Wertewandel"- Diskussionen der 70er Jahre haben sicherlich die krudesten Versionen strukturdeterministischen Denkens aus dem wissenschaftlichen Diskurs verdrängt: Der "Neubeginn der Kultursoziologie" (Lipp/Tenbruck 1979) verdankt den differenzierten Überlegungen "linker" Soziologen zum Problem der prekären Abstimmung von Sozial- und Systemintegration mehr als ihre heutigen Vertreter zuzugeben bereit sind. Und auch die Wahlforschung macht sich zunehmend Gedanken über die Gewichtung situativer Faktoren und die Eigendynamik politischer Wertorientierungen gegenüber sozialstrukturell abgeleiteten Verhaltensdis­positionen.

Unerschütterlich, im forschungspraktischen Alltagsbewußtsein am weithin begriffsrealistischen Verständnis struktureller Variablen ablesbar, scheint jedoch der die "Soziologie begründende (...) Glaube (…) an die Nicht-Kontinqenz der kontin­genten Entwicklung der Gesellschaft" (Rammstedt 1978: 29/30) zu sein. Dieser Glaube er­schwert die selbstreflexive (nicht notwendigerweise relativistische) Einsicht, daß sozi­al­wissenschaftliche Aussagen über die "Tiefenstruktur" (Pappi) der Gesellschaft nichts anderes als (in die Gesellschaft zurückwirkende!) Sekundärabstraktionen historisch ge­wachsener Sinndeutungen gesellschaftlicher Prozesse darstellen (vgl. dazu Berger / Luckmann 1980:95, Bernstein 1979: 243). Prozesse strukturalistisch zu deuten, heißt dann, auf Bekanntes, immer schon "Gewußtes" zurückzugreifen, Kontingentes als Vari­ation des Nicht-Kontingenten zu interpretieren. Dieser Zugriff mag als Erkenntnismodus dem "Alltagsbewußtsein" zugeschrieben werden. Festzuhalten bleibt in der Tat, daß das zur empirischen Routine verfestigte Interesse an Variablen, die im Kontext strukturalisti­scher Gesellschaftstheorien als Leitvariablen identifiziert werden, bisher nur von einer Minderheit politischer Soziologen auf seine historische Bedingtheit (vgl. u.a. Barnes / Kaase (Hrsg.) 1979:13) und seine analytische Leistungsfähigkeit für die Erklärung mo­derner Wandlungsphänomene (vgl. u.a. Küchler 1981:432) befragt werden. Mehrheitlich gilt weiterhin:

"Handlungsentscheidungen und Persönlichkeitsmerkmale von Aktoren (...) treten im Rah­men spezifischer Strukturen (...) mehr oder minder kontingent auf. Soziologische Theorie jedenfalls kann es sich leisten (sic!), die individuellen Bedingungen ihrer Genese als blinde Variation zu betrachten und ihre Erklärung psychologischen Theorien zu überantworten." (Kopp/Schmid 1981: 269)

Die Psychologisierung und Individualisierung all jener Phänomene, die durch das Ras­ter strukturalistischer Kategorien hindurchfallen, kann so als die zentrale Komponente der Eliminierung des politischen Voluntarismus aus der Politischen Soziologie bezeich­net werden. Sie übernimmt dabei charakteristische Züge  konservativ-instititutionalisti­schen Ordnungsdenkens, während das prozeßpolitische Interesse für kontingente Inter­aktionen konkreter Akteure sich in die policy-Forschung zurückzieht. Die “klassische" Identitätsmarkierung der Politischen Soziologie durch Lenk (1982) ist somit zumindest im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre unzureichend.

 

II. Sozialer Wandel: Zur Identifizierung produktiver Strukturierungsprozesse

Die kritischen Stimmen gegenüber einer Soziologie, die "die gesamte Sozialwelt (...) als vollständig strukturell vernetzte Welt (erscheinen läßt), in der die Determinationsgewalt der sozialen Organisationen und Systeme jedes individuelle Handeln, jede Kontingenz unmöglich zu machen droht" (Bergmann 1981: 51), haben als minoritäre Position eine lange Tradition. Ihr Minderheitenstatus beruhte oft genug auf einer komplementären Einseitigkeit in der dezisionistisch-trotzigen Hervorhebung des individuellen politischen Voluntarismus gegenüber aller "realsoziologischen" Plausibilität struktureller Determi­nismen: Von Michels bis Marcuse lassen sich ausreichend Beispiele finden, die auch lebensgeschichtlich die Nähe beider Paradigmen anschaulich machen.

Komplexer als kulturkritische Eindimensionalitätshypothesen sind die Argumentationen von Soziologen, die die Suche nach weißen Flecken auf der Landkarte durchstruktu­rierten Verhaltens nicht unvermittelt nur auf die individuelle Ebene beschränken. Phä­nomenologisch-interaktionstheoretische bzw. sozialkonstruktivistische (z.B. Berger/Luckmann 1980) und neuere kul­turmarxistische (z.B. Weiner 1981) Ansätze gehen dabei von einem Verständnis sozia­len Wandels aus, das Anthony Giddens (1984: 124) wie folgt formuliert:

"Der Schlüssel zum Verständnis sozialer Ordnung (…) ist nicht die ‚Internalisierung von Werten’, sondern die Wechselbeziehung zwischen der Produktion und der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens durch die Handelnden. Jede Reproduktion ist jedoch not­wendig Produktion: und in jeder Handlung, die zur Reproduktion einer 'geordneten' Form gesellschaftlichen Lebens beiträgt, liegt der Keim des Wandels."

Eben diese Hervorhebung des aktiven, kreativen Moments sozialer Interaktionen in der Dialektik von Produktion und Reproduktion sozialer Strukturen markiert den Unterschied der genannten Ansätze gegenüber allen strukturdeterministischen, einsei­tig den Aspekt der Reproduktion hervorhebenden (bzw. “Produktion" allenfalls als "Ent­faltung struktu­reller Widersprüche/Unverträglichkeiten“ interpretierenden) Analysemo­dellen.

Ein konzeptionelles und zugleich forschungspraktisches Problem scheint nun jedoch die Identifizierung des Aggregationsniveaus der Produktion sozialer Strukturen aufzuwer­fen. Die Politische Soziologie kann es sich sicherlich nicht "leisten", der Sozialpsycholo­gie Konkurrenz zu machen und soziales Handeln bis in die Dialektik "phylogenetischer" und gesellschaftlicher Komponenten hinein zu verfolgen. Zu hoch angesetzt erscheint andererseits der Versuch von Kurt Lenk, die überkommenen Eindimensionalitätskon­strukte mittels eines politisch-soziologischen Kreislaufmodells aufzubrechen:

"Die Dynamik sozialer Prozesse steht nicht bloß am Anfang jeder Institution, zu der sie sich dann verdichten, sondern die Auflösungsprozesse, von denen politische Institutionen periodisch (!) erfaßt werden können (!), münden ihrerseits wieder in soziale Prozesse und Bewegungen." (Lenk 1982: 13)

Sieht man von der Unbestimmtheit des von Pareto inspirierten zyklischen Determinis­mus dieses Kreislaufmodells ab, dann erkennt man deutliche Parallelen zu neueren Versuchen einer Dynamisierung des cleavage-Konzepts der Wahl- und Parteiensoziolo­gie. Auf der Basis der generalisierten Beobachtung, daß "fast alle Parteien (...) ihren Ursprung in abweichendem politischen Verhalten gegenüber dem bestehenden Nor­men- und Verhaltensregelsystem der Zeit" (v.Beyme 1982: 25) haben, wird hier ein historisches Ablaufschema der "Ausdifferenzierung von Parteien" (a.a.O.: 36f) kon­struiert, dem als vorerst letztes Stadium die Entstehung der "ökologischen Bewegung gegen die Wachstumsgesellschaft" zugeordnet wird.

Selbst wenn man solche Konzepte oder historischen Ablaufschemata der Produktion und Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen mit den rigorosen Auswahlkriterien bei­spielsweise des Touraineschen "Historizitäts"-Verständnisses auf ein einheitliches Referenzniveau bringen könnte, zeichnet sich damit noch keine überzeugende Lösung des Aggregationsproblems ab - im Gegenteil: Die bisherigen Dynamisierungsversuche bleiben bei der Analyse der prozeßpolitischen Komponente der Produktion sozialer Strukturen immer noch einem gesamtgesellschaftlichen Abstraktionsniveau verhaftet, das allenfalls dem durchstrukturierten Ergebnis solcher Prozesse angemessen wäre. Ob bei weiterhin wechselnden Themenkonjunkturen beispielsweise die Prozesse, die heute reichlich unbestimmt dem Auftreten der "Neuen sozialen Bewegungen" zuge­rechnet werden, "auf den Begriff " der ökologischen Bewegung zu bringen sind, muß bis heute als offene Frage gelten.

Gegenüber improvisierten Sinndeutungen kann in der Tat eingewandt werden: "Der überkommenen Krisentheorie mangelt es an empirischen Anhaltspunkten, während umgekehrt den tatsächlichen Krisenprozessen eine adäquate Theorie fehlt." (Offe 1980: 29). Nur: Das Problem einer "adäquaten Theorie" scheint sich inzwischen nicht mehr nach den Rezepturen des klassischen Bewegungsverständnisses lösen zu lassen (vgl. Evers/Szankay 1981:48). Die Versuche bewegungsnaher Sozialforscher (zur Übersicht: Roth 1983), theoretisch legitimiertes "Wissen" und konkretes Situationshandeln von Bewegungs-"Mitgliedern" nach frühsozialistischem oder linkshegelianischem Vorbild (vgl. Rammstedt 1978: 50) wieder enger zu verknüpfen, sind bisher wohl eher am Tra­ditionalismus der Theorien als an der behaupteten Theoriefeindlichkeit der Bewegten / Bewegenden gescheitert.

Von daher ist die These gerechtfertigt, daß das Abstraktionsniveau des kategorialen Apparates und der deduktiven Argumentationslogik, das sich für die Analyse der Re­produktion sozialer Strukturen bewährt hat, den Besonderheiten zumindest der heutigen Produktionsprozesse strukturierten Verhaltens äußerlich bleibt. "Die Rationalität von Interaktionsprozessen läßt sich (...) in hochdifferenzierten Gesellschaften nicht bruchlos auf die Organisationsebene und die Ebene gesamtgesellschaftlicher Struktu­ren und Prozesse abbilden." (Brand 1983: 190) – Dieser Satz gilt nicht nur in der Kritik am Theoriedefizit der “Neuen sozialen Bewegungen", er ist auch als Prämisse jeder sozialwissenschaftlichen Deutung dieses Phänomens voranzustellen.

Diese Prämisse zu akzeptieren, heißt für die Forschungspraxis, sich über das "gesun­kene Kulturgut" (Hans Naumann) alltäglichen Argumentierens noch einmal grundsätz­lich zu verständigen:

  1. Zunächst ist die "Einsicht wesentlich, daß Strukturen nur als das reproduzierte Ver­halten situativ Handelnder existieren, die klar bestimmte Intentionen und Inte­ressen haben." (Giddens 1984: 155). Diese Einsicht widerspricht nicht der schon klassischen Erkenntnis von der "Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen" (Schluchter 1981: 611), sofern der Strukturbegriff konsequent nur für die sich kontinuierlich reproduzierenden Verhaltensformen reserviert bleibt. Folglich kann von strukturdeterminiertem Verhalten nur in Bereichen gesellschaftlich institutio­nalisierter und standardisierter Handlungsorientierungen gesprochen werden.
  1. Politische Soziologen neigen zu der Annahme, "daß das Sozialschicksal von Millio­nen politisch entschieden wird" und demnach "für alle Betroffenen 'Politik' die empirische Tatsache schlechthin" (Massing 1974: 8) darstellt. Diese An­nahme ist nicht nur utilitaristisch verengt, sondern suggeriert auch die lebens­weltliche "Realität" gesamtgesellschaftlich kategorisierter und abstrahierter Sozi­almilieus. Die diesen Sozialmilieus zugeschriebenen standardisierten Hand­lungsorientierungen sind allenfalls als Reflex von Organisationszugehörigkeit oder Parteiidentifikation, d.h. als partielles Aggregat unterschiedlichster Interes­sen und Intentionen, zu verstehen. Aggregierte Interessen und Handlungsorien­tierungen sind per definitionem system- und institutionenorientiert, also bereits aus interaktiven Handlungskontexten konkreter politischer Akteure ausdifferen­ziert. Gesamtgesellschaftlich aggregierte Sozialmilieus sind daher als theoreti­sche Konstrukte anzusehen, deren Abstraktionsniveau zwar systemischen, nicht aber interaktiven Formen politischer Interessenvermittlung angemessen ist.
  1. Der kreative Prozeß der Produktion gesellschaftlicher Strukturen ist zunächst an interaktive Formen politischer Interessenvermittlung gebunden. Erst das Endpro­dukt dieses Prozesses kann gegebenenfalls als stabiles Aggregat angesehen werden, das sich einer systemischen Kategorisierung (und Problemverarbeitung) anbietet: "Strukturierungsprozesse verbinden die strukturelle Integration oder Umwandlung von Kollektiven oder Organisationen als System mit der sozialen Integration oder Umwandlung der lnteraktion auf der Ebene der Lebenswelt." (Giddens 1984: 151).
  1. Wird eine Analyse dieser Prozesse nicht von vorneherein als (explizite oder impli­zite) "Intervention" im Sinne von Touraine (oder betroffener politischer Sys­teme!) angelegt, so hat sie sich ihrer Kategorien rekonstruktiv, d.h. durch Nach­zeichnung der von den beobachteten Akteuren interaktiv entfalteten Dialektik von "Tun" und "Denken" (vgl. Berger/Luckmann 1980: 98), zu vergewissern. Nicht die vorschnell nomologisierte Sequenz von Ereignissen, sondern die wechselseiti­gen Rückkopplungen von Interaktionen, (ungewollten) Ereignissen und fortlau­fenden Ereignis- und Situationsbewertungen durch die Akteure sind das "Mate­rial" einer rekonstruktiven Analyse.
  1. Strukturierungsprozesse sozialer Interaktionen stehen in dem Maße empirisch-quantifizierenden Analysemethoden offen, in dem der mathematisch-statistische "Modellcharakter der Statistik" (Kriz 1981: 135) als plausibles Korrelat verregel­ten Handelns gelten kann. Die Entscheidung über die Angemessenheit dieser Methoden ist kontextabhängig: Eine stabile Gruppe lokaler Akteure kann quantifi­zierenden Surveys validere Aussagen ermöglichen als ein labiles Bewegungsag­gregat regionaler oder nationaler Akteure. Werden "Gruppen" nur aus statisti­schen Aggregatdaten konstruiert, muß ihre Validität für die Prognose gesell­schaftlicher Strukturierungsprozesse bezweifelt werden. Die Aneinanderreihung statistischer Momentaufnahmen ist noch keine Prozessanalyse.

Fazit: Auch wenn es die Politische Soziologie von ihrem Selbstverständnis her als un­verzichtbar ansieht, kontextgebundene Prozesse der Entstehung neuer Bedürfnisse und Erfahrungen in gesamtgesellschaftlicher Perspektive zu rationalisieren: Sie kann es sich dennoch nicht "leisten", diese Bedürfnisse und Erfahrungen nur als analytisches Verbrauchsmaterial zur Konstruktion abstrahierbarer Interessen und Werte zu betrach­ten - sie muß sie erst einmal "verstehen" lernen.

 

Anmerkungen

1) ln diesem Zusammenhang nur ein Satz von Leithäuser (1976: 12): "Die Reduktion von Neuem, Unbekanntem auf das allerdings nur vermeintlich Bekannte ist die Er­kenntnispraxis des Alltagsbewußtseins." (!)

2) ln den Auseinandersetzungen um das Erbe dieser (beiden) "Klassiker" werden die hier angedeuteten Grundsatzprobleme bisher am deutlichsten artikuliert. Vgl. z.B. Thompson 1980, Giddens 1984, Bernstein 1979, Schluchter 1979, Münch 1980, Habermas 1981 u.v.a.

 

Literatur

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