Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.
Regionale Kultur als Entwicklungsfaktor (1995)

 

Regionale Kultur als Entwicklungsfaktor

Kritische Anmerkungen zu aktuellen Trends regionaler Kulturförderung

(aus: Neues Archiv für Niedersachsen 1/95: 127-136)

 

Vorbemerkungen

 

Zu den Gemeinplätzen des regionalpolitischen Diskurses gehört inzwischen die Klage über die be­grenzte Wirksamkeit herkömmlicher regionaler Strukturpolitik. Die im Raumord­nungsgesetz von 1964 und in der 1969 fixierten Gemeinschafts­aufgabe "Verbesserung der regionalen Wirt­schaftsstruktur" formulierten Wachs­tums-, Stabilitäts- und Ausgleichsziele sind - so die über­wie­gende Meinung - nur begrenzt erreicht, wenn nicht sogar durch andere sektorale Politikbe­reiche (For­schungsförderung, lnfrastrukturpolitik) konterkariert worden. "Der Erfolg der Regi­onalpolitik ist nicht bezifferbar" (Kruse 1990: 68) - dieses Urteil eines Regierungsdi­rek­tors aus dem Regie­rungspräsidium Arnsberg bestätigt nur, was viele Prakti­ker denken und zuvor wissenschaftlich wiederholt bestätigt wurde.

 

Die dieser regionalen Strukturpolitik zugrundeliegenden wirtschaftswissen­schaftli­chen Lehr­mei­nungen, insbesondere das Export-Basis-Konzept, gehören dagegen nach wie vor zu den zentralen Orientierungsmarken nicht nur bürokrati­scher Pla­nungsstäbe, sondern mehr noch regionaler und lokaler Wirtschaftsver­treter und Politiker. Gerade diese Orientierungen haben aber dazu bei­getragen, daß sich "regionale Strukturpolitik im praktischen Vollzug von anderen ökono­mischen, so­zialen und ökologischen Bedingungen des Wirtschaftens" (a. a. 0.: 66) iso­liert und auf ein ökonomistisch verengtes Verständnis von Regionalent­wick­lung zurückge­zo­gen hat.

 

Während das Unbehagen über die "Inflexibilität" der herkömmlichen Regional­politik "hin­sichtlich lokaler oder regionaler Besonderheiten" (a. a. 0.: 69) inzwi­schen zu einigen Kor­rektu­ren und in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen so­gar zu Ansätzen einer Regiona­lisierung geführt hat, reduziert sich das Ver­ständnis von "lokalen oder regionalen Beson­derheiten" weit­hin immer noch auf herkömm­liche Indikatoren wie Industriestruktur, Quali­fikationsniveau, Beschäftigungsstruk­tur, Arbeitslosenquoten, Lohnniveau und Infrastruktur. "Weiche" Standort­faktoren spielen nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle, ganz zu schweigen von re­gionalen Wertorientierungen und Normen des All­tagslebens, die bei regionalpoli­tischen Entscheidungs­trägern allenfalls noch auf der Vorurteilsebene präsent sind.

 

Kultur als Faktor von Regionalentwicklung gerät unter diesen Bedingungen nur insoweit ins Blick­feld, als dieser Bereich (potentiell) meßbare Effekte für eine Stei­gerung der regionalen Wertschöp­fung verspricht. Daß hiermit nur ein kleiner Wir­kungsausschnitt von "Kultur" erfaßt wird, sollen die folgenden kommentierten The­sen deutlich machen. Sie weisen in der Kritik an einem verkürz­ten Kulturbegriff und darauf aufbauender Kulturförderung auf Zusammenhänge zwischen Regio­nalentwicklung und "Kultur" hin, deren Grundmuster bereits in der klassischen Analyse Max We­bers über "Die protestantische Ethik und den 'Geist' des Kapita­lismus" (1905/1920) herausgear­beitet wurden.

 

Die Entdeckung der Kultur als regionaler Wirtschafts- und Standort­fak­tor: Folgeprobleme

 

These 1

Die Mobilisierung öffentlicher und privater Gelder für die regionale Kulturförde­rung fällt bei zunehmender Mittelknappheit umso leichter, je unmittelbarer die ökonomischen Effekte einzelner Fördermaßnahmen nachzuweisen oder zumin­dest plausibel zu machen sind.

 

Die "Erfolgs- und Wirkungskontrolle" herkömmlicher regionalpolitischer Investitions­zu­schüsse be­schränkt sich bis heute weitgehend auf den höchst fragwürdigen und wenig aus­sage­kräftigen Indikator der neu geschaffenen oder gesicherten Anzahl von Arbeitsplätzen. Diese Zahlen werden den Antragsunterlagen der Subventionsempfänger entnommen. Eine nachträg­liche Überprüfung der tat­sächlich eingetretenen Effekte findet nicht statt (vgl. u. a. Kruse 1990:69). Eben­sowenig interessiert bei dieser Quantifizierung die Qualität der neu eingerich­te­ten oder gesicherten Ar­beitsplätze. Investitionszuschüsse für Industrieansiedlun­gen in För­dergebieten führen daher in der Regel zu einer Senkung der Quote hochqualifi­zierter Arbeits­plätze des regionalen Arbeitsmarktes, die wiederum die Abwanderung gut ausgebildeter Ar­beitskräfte und Schulabsolventen sowohl aus der Region ("brain-drain") als auch aus dem mit­telständischen Sektor ("Fachar­beitermangel") verstärkt.

 

In merkwürdigem Kontrast zu der bei hohem Mitteleinsatz vergleichsweise laxen und quali­ta­tiv unbefriedigenden Wirkungskontrolle herkömmlicher regionalpoliti­scher Subventi­onspolitik stehen die Erwartungen, die an den Effizienznachweis kultureller Investitionen geknüpft wer­den: Am überzeugendsten wirken Berech­nungen, die beispielsweise an der Zahl der Besucher eines kultu­rellen Ereignisses ("event") die in eine Stadt oder Region geflossene zusätzliche Kaufkraft kalku­lie­ren. Fast alle Kulturveranstalter stehen heute unter dem Druck, die überlo­kale/überregionale Ausstrahlung ihrer Projekte und Einrichtungen vor dem Hin­tergrund dieses Kalküls nachzuweisen. Der quantifizierte Indikator "Publi­kumsreso­nanz" wird damit zum wichtigsten Maßstab der Wir­kungskontrolle kultureller Ak­tivitäten. Je weniger dieser Indikator als Effizienznachweis ins Feld geführt werden kann, desto aufwendiger muß die argumentative Rechtfertigung kultureller Pro­jekte gegenüber öffentlichen wie privaten Geldgebern gestaltet werden.

 

These 2

Je stärker kurzfristig kalkulierte ökonomische Rentabilitätsmaßstäbe an kulturelle Inve­stitionen angelegt werden, desto mehr wird sich Kulturförderung nach den Maßstäben professioneller Werbung auf die mediale Inszenierung von "events" und "highlights" ver­legen.

 

Neben den Indikator "Publikumsresonanz" tritt als Effizienzmaßstab schon im Vor­feld kul­tu­reller Ereignisse die mediale Präsenz kultureller Vorhaben und Aktivitä­ten in den Vorder­grund. Die Spannweite reicht hier von öffentlich ausgetrage­nen Investitionswettläufen der Metropolen in neue Kunst- und Kulturstätten über aufwendige Imagekampagnen bis hin zu auflagenstarken Pro­duktionen unzähli­ger Hochglanzbroschüren. Als Beurteilungsmaßstab und Erfolgsnach­weise für Geldgeber/Investoren verdrängen Publikationen und ereignisbe­gleitende "Pres­sespie­gel" qualita­tive Maßstäbe der Publikumsresonanz oder Wirkung von Kultur­arbeit.

 

"Kultursommer überall, Kulturpolitik als ganzjährliches Aushängeschild, Kultur­freundlich­keit als Standortkriterium sind die neuen Leitbilder auch der ländlichen Kulturszene" (Her­ren­knecht 1991 : 29). Die unkritische Übernahme von Marke­tingmaßstäben städtisch-me­tropolita­ner Kulturpolitik reproduziert bzw. verstärkt dabei jedoch vorhandene Ungleich­gewichte: "Nur nachholende Kul­turarbeit bleibt negativ-provinziell, denn sie ändert nichts am Grundzustand der Provinz." (A.a.o.)

 

 

These 3

Ökonomisches Rentabilitätsdenken und die Zwänge professioneller Vermarktung begün­stigen aktualitäts- und konsumorientierte sowie zentralistische Produkti­onsmuster von Kultur gegenüber langfristig angelegter, partizipatorischer und dezentralisierter Kul­turar­beit.

 

Das in den 70er Jahren im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs insbesondere vom Europa­rat ausgearbeitete kulturpolitische Leitbild der Entwicklung "kultureller Demokratie" (vgl. Weber 1993: 182 ff) stellte für die kulturellen Aspekte gesell­schaftlicher Modernisierung das "Kreati­vitätsbedürfnis des Einzelnen, die Lebens­qualität, endogene Entwicklung, Kom­munikation und Partizipation" (a. a. 0.: 183) in den Vordergrund. Dieses Leitbild führte weit über die Kon­zep­tion der "Demo­kratisierung von Kultur" hinaus, die Hilmar Hoffmann 1979 mit dem Slogan "Kultur für alle" popularisierte.

 

Während sich Hoffmanns Konzeption im nahtlosen Übergang zur Entdeckung der Kultur als Wirt­schafts- und Standortfaktor in den 80er Jahren mit allen eben an­gedeuteten Folgen durch­setzte, blieb das Leitbild "kultureller Demokratie" lange Zeit ein subkulturelles Phä­nomen, dem allenfalls unter dem Stichwort "Soziokultur" gewisse kommunal und staatlich garantierte Frei­räume zuge­standen wurde.

 

Schon die ursprünglich kulturpädagogisch orientierte Konzeption einer "Demo­kratisierung von Kultur" zeigte eine einseitige Orientierung auf hochkulturelle An­gebotskultur. Zuneh­mende Ver­marktungszwänge ließen aus Angebotskultur ein Konsumgut mit hohen Investi­tionskosten und sorgfältig gepflegtem Markenarti­kel-Charakter werden. Diesem Sog konnte sich auch soziokultu­relle Kulturarbeit nur schwer entziehen (vgl. Glaser/Röbke 1 993: 14).

 

In dem Maße, in dem sich ursprünglich alternative "soziokulturelle Zentren" profes­sionali­sier­ten und soziokulturelle Projekte in ihren Vermarktungsanstrengungen zu hochkulturel­ler Kon­sumkul­tur aufschlossen, stieg auch die offizielle kulturpolitische Akzeptanz der "Soziokultur" - und sei es um den Preis ihrer Anerkennung als In­strument "präventiver Sozialpolitik" (Stüde­mann 1993 237).

 

Die im Selbstverständnis der maßgeblichen Akteure auch als Beitrag zur regio­nalen Innova­ti­ons­förderung begriffene Zentralisierung der niedersächsischen Soziokultur-Förderung zu Lasten de­zentralisierter Förderansätze stellt allerdings sowohl neuere Ansätze der Regional­po­litik als auch das ursprüngliche Konzept von Soziokultur politisch-administrativ auf den Kopf. Dabei ist es überaus fraglich, ob unsinnige Polarisierungen zwischen "Soziokultur" und "Hei­matpflege", wie sie unlängst zu lesen waren, eine zentralisierte Förderpolitik recht­fertigen kön­nen.

 

Soziokultur - Kulturelle Demokratisierung ländlicher Kulturarbeit "von oben"?

 

These 4

Wenn Soziokultur auch in ländlichen Gebieten eine "kulturelle Praxis" bezeichnen soll,

       "die den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtert; die die gestalterische Selbsttätigkeit möglichst vieler Menschen fördert und ihre ästheti­schen, kommunikativen und sozialen Fähigkeiten entfalten hilft, die die alltägliche Lebenswelt einbezieht" (Die Weiße Mappe 1994 : 3),

dann enthält dieses Begriffsverständnis nicht nur die kulturpädagogischen Ele­mente einer "Kultur für alle", sondern auch die Anerkennung lebensweltlichen und subkultu­rellen "Eigen-Sinns" (vgl. Bausinger 1993: 486) im Sinne "kultureller Demokratie", der politisch-administrativ Rechnung zu tragen ist.

 

Gegenüber einer vorschnellen Polarisierung zwischen importierter oder "aufge­pfropfter" Soziokul­tur und "gewachsener" ländlicher Kulturarbeit beteuert die "Weiße Mappe", "wesent­lich" für soziokulturelle Arbeit im ländlichen Raum sei "ein Sicheinlassen auf die vorhandenen Strukturen" (a. a. 0., S.4). Damit wird die Ba­lance zwischen kulturpädagogi­schen Modernisie­rungsvorstellungen zentraler Mit­telvergabestellen und der Anerkennung vorgefundenen "Eigen-Sinns" zum ent­schei­denden Prüfkriterium für die Ernsthaftigkeit die­ser Beteuerung. Setzt man in diesem Punkt "guten Willen" voraus, gilt dennoch: Schon der zentralisierte Wett­bewerb um knappe Mittel und die dar­aus folgenden Selbstvermarktungs­zwänge der konkurrie­renden Projekte lassen es fraglich er­scheinen, ob unter diesen Bedin­gungen die von Herren­knecht geforderte Extensivierung ländlicher Kultur­arbeit durchzuhal­ten ist: "Kulturarbeit in der Provinz muß ein Extensivierungspro­gramm sein: Extensiv in der Ausdehnung, um alle potentiellen Kulturträger anzu­sprechen. Extensiv in der Offenheit des Angebots und des Dia­logs. Extensiv in der Bestimmung des Wachstumstempos durch die Betroffenen selbst, in der Aner­kennung des menschlichen Maßes und der provinziellen Zeitkategorien (Kontinui­tätsge­bote). Extensiv wie ein ausgespanntes Sonnensegel, das die Ener­gien des Raumes bündelt und zu einer neuen Energieform vereint, in der das Ganze mehr ist als seine Teile. " (Herrenknecht 1991: 30).

 

Die äußeren Bedingungen eines Wettbewerbs um zentral vergebene Mittel ha­ben eigendy­nami­sche Rückwirkungen auf die inhaltliche Gestaltung und Durchführung soziokultureller Pro­jekte. Wichtiger ist allerdings, daß diese Art der Förderung zu einem kulturellen Spar­ten- und bürokrati­schen Ressortdenken zu­rückführt, das in einem diamentralen Gegensatz zu allen Ansätzen mo­derner Regionalentwicklungspolitik gerade auch in Niedersachsen steht: Während regi­onale Struk­turpolitik zunehmend auf kommunikative Vernetzung und dezentrale Konsens­bildung regionaler Akteure in "Regionalkonferenzen" setzt, führt spar­ten­bezogene zentrali­sierte Kulturförderung ge­rade nicht zu einer Bündelung der kul­turellen "Energien des Raumes", sondern zu ihrer Zersplitte­rung. Damit dementiert sich die Pro­grammatik niedersächsischer Soziokulturförderung durch ih­ren admi­nistrativen Vollzug.

 

These 5

Kulturarbeit in ländlichen Randregionen ist heute mehr denn je in einen Kontext gestellt, in dem es um die Selbstbehauptung dieser Regionen gegenüber admi­nistrativer, politi­scher, wirtschaftli­cher und kultureller Enteignung von Selbst-Be­wußtsein, Eigen-Sinn und eigenständigen Entwick­lungsmöglichkeiten geht. Kul­turarbeit wird damit zu einem konsti­tutiven Element von Regional­entwicklung, die als Querschnittsaufgabe nur dezen­tral und partizipatorisch zu organisieren ist.

 

Den Zusammenhang zwischen Kulturförderung und Regionalentwicklung thema­tisierte Rein­hard Wilke als Abteilungsleiter im niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst bereits vor über 15 Jahren, als es um die Einrichtung des ersten "Modellversuchs zur Verbesserung der kulturellen Infrastruktur (!) Ostfries­lands", d. h. der später auch auf andere Regionen Niedersach­sens ausgeweite­ten "Regionalprogramme" ging: "Kulturelle Bildung ist über die postulierte Chan­cengleichheit hinaus auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie die schöpferischen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen im intellektuellen und emo­tionalen Bereich weckt und Wechselbe­ziehungen zwischen diesen Fähigkei­ten und Kräften herstellt." (R. Wilke 1985 : 11).

 

Dem breit angelegten Kulturverständnis dieser "Regionalprogramme" entsprach selbstver­ständlich auch eine politisch-administrative Dezentralisierung der orga­nisatorischen Förder­praxis, für die man sich zumindest im erwähnten Modellver­such eine Einrichtung suchte, die jenseits politisch-­administrativen Ressortdenkens angesiedelt ist, demokratisch legiti­miert ist und damit weniger in Gefahr gerät, inhaltliche Innovationen bürokratischen Routi­nen unterzu­ordnen. Wenn diese Re­gionalprogramme nicht allerorten - wie argumentiert wird - gehalten haben, was sie versprachen, dann ist deren Abschaffung ohne nähere Un­tersuchung der admi­nistrativen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung kurzschlüssig. Die Wie­dereinführung zentralistischer und ressortgebundener Förderstrukturen verstärkt, was sie zu kurieren vorgibt - sie ist in erstaunlicher Weise anachroni­stisch.

 

Regionalentwicklung als kultureller Prozeß

 

These 6

Die seit einigen Jahren forcierte Regionalisierungsdiskussion in Niedersachsen ist eine politische Konsequenz aus der Einsicht in die begrenzten Wirkungsmöglich­keiten her­kömmlicher Regionalpolitik "von oben" (vgl. Vorbemerkungen). In ihrer administrati­ven Umsetzung konkur­rieren allerdings die unterschiedlichsten Vor­stellungen und Inter­essen. Die Kulturpolitik des Landes zeigt sich zudem gänzlich unberührt von den laufen­den Re­formüberlegungen. Hier sind Klarstellungen drin­gend notwendig.

 

Das bunte und ungeklärte Nebeneinander von Wirtschaftsregionen (Einrichtung von Regio­nal­kon­ferenzen), grenzüberschreitenden Regionen (EDR, Neue Hanse Interregio), Verwal­tungsre­gionen (Weser-Ems: "Wir wachsen, zusammen!"), Zweckverbands- bzw. Planungs­regionen (Großraum Hannover, Bremen/ Bremer­haven-Oldenburg), Verbandsregionen der Tourismus-Werbung ("Schlender­land"!), EG-Strukturförderungsgebieten (Ziel 5b), Lehrer­fortbildungsre­gionen, "Landschaften" etc. hat seine Ursache in einer taktisch beliebigen und inflatio­nären Verwendung des Regionsbegriffs. In dieser scheinbaren Beliebigkeit spie­geln sich unter­schiedliche institutionelle Beharrungskräfte und Interessen sowie wider­sprüchliche Regionali­sierungsvorstellungen: "Regionalisierung" tritt auf als kulturell ange­reicherte Fortsetzung der Zweckverbandsdiskussion, als Instrument zur Behauptung oder Stärkung administrativer Mit­telinstanzen, als Strategie von Ministerien zur Entlastung von Koordinationszwängen, als Mobilisierungsansatz für endogene Potentiale jenseits einge­spielter Verwaltungsroutinen oder als Umset­zung des Subsidiaritätsprinzips nach innen (Binnenföderalismus).

 

Gegenüber dieser Vielfalt von Regionalisierungsvorstellungen und -interessen sollte die Dis­kus­sion auf die Kernpunkte des in den 70er Jahren einsetzenden Paradigmenwandels der Regional­politik zurückgeführt werden, mit dem die Be­mühungen von Wirtschaftsadmini­stra­tionen, Politi­kern und Regionalwissen­schaftlern bezeichnet werden, neue Wege von Regional­entwicklung zu erpro­ben: statt "abhängiger Entwicklung" Stärkung endogener Pro­zesse von Regional­entwick­lung, statt politischer Steuerung "von oben" (Interventionsstaat) konse­quente Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip, statt kultureller und poli­ti­scher Apathie Par­tizipation, statt sek­toral isolierter Entwicklungsprojekte "integ­rierte" Regionalentwicklung. In diesem Konzept kann "Region" ohne kulturelle Identitätskompo­nente nicht gedacht werden. Diese Identitätskomponen­te ist außerdem durch technokrati­sches Identitätsmanagement und Image-Marketing nicht zu er­setzen: die Dynamik regional­kultureller Vergesellschaftung folgt einem anderen Takt als die Dy­namik ökonomischer oder politisch-administrativer Pla­nungs­räume.

 

These 7

"Region ist nicht nur eine kulturhistorisch geprägte Einheit, sondern auch ein ak­tueller Kommuni­kationsraum" (Bausinger 1993: 474). Regionale Kulturpolitik, die als Grund­lage von Regional­entwicklung der Identitätsstärkung nach innen und der Profilbildung nach außen dienen soll, hat zu berücksichtigen, daß eine Re­gion genauso viele Facetten hat, wie ihre Bevölkerung nach Interessen und Le­bensweisen vielfältig ist.

 

Ausgangspunkt jeder Debatte über regionale Kulturpolitik sollte die Minimaldefi­nition von "Region" in der "Regionalisierungscharta" des Europäischen Parlaments vom November 1988 sein:

1.  Im Sinne dieser Charta versteht man unter Region ein Gebiet, das aus geografi­scher Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefüge darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus resultierenden Eigenschaften bewahren und weiterentwi­ckeln möchte, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftli­chen Fortschritt vor­anzutreiben.

2.  Unter gemeinsamen Elementen einer bestimmten Bevölkerung versteht man gemein­same Merkmale hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtli­chen Tradition und der Inter­essen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrs­wesens. Es ist nicht unbedingt erforder­lich, daß all diese Elemente immer ver­eint sind. '

 

Regionsbildung ist also nicht nur ein "traditionalistisches" Relikt vormoderner Le­benszu­sam­men­hänge, sondern vor allem ein kontinuierlicher gesellschaftlicher und politischer Verständi­gungsprozeß, in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständi­gen und regionsverträglichen Moderni­sierung geht. Erleichtert wird diese Kon­sensbildung durch die Ge­meinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeu­gungen, über die sich die Ak­teure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen. Regionale Identität aktualisiert sich im ge­meinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines historisch-kulturellen Zusammengehörigkeitsge­fühls. Ein wichtiges Symbol dieses Zusam­mengehörigkeitsgefühls ist oftmals die Regionalsprache bzw. ein regionaler Dia­lekt, obwohl beides keine notwendige Voraussetzung für Regionsbildung und regionale Identi­tät, sondern nur deren Ausdruck ist.

 

Regionale Identität steht als Orientierungshilfe für Gemeinschaftsbildung und gemeinschaft­li­ches Handeln auch in ländlichen Regionen in Konkurrenz oder quer zu räumlich indiffe­renten Orientie­rungen nach Schichtungsmerkmalen, (partei-)politischen Überzeugungen, modischen oder subkul­turellen Lebensstilen oder beruflichen Solidaritäten. Wird regionale Identität zu einem Thema ge­sell­schaftlicher Diskussion, dann zeigen sich sehr schnell un­terschiedliche Betroffen­heiten und Einstellungen. Mit Michel Bassand (1993 : 187 f) kön­nen wir hierbei fünf Einstellungstypen un­terscheiden:

 

1.   Apathische und resignierte Regionalbewohner ohne jede Beziehung zur oder Bindung an die Region. Sie sind "isolierte und unkritische Konsumenten der Massenkultur."...... Sie werden von diesen Auseinandersetzungen nicht (mehr) erreicht. Apathie als Phäno­men kultureller Entfremdung oder Enteignung ist gerade in Randregionen häufig anzu­treffen.

2.     Die potentiellen Emigranten, die sich ebenfalls nicht mit ihrer Region identifizie­ren, dafür aber, anders als Gruppe 1, persönliche Vorstellungen und Pläne haben, die in ihrer Heimat­region nicht umzusetzen sind. Sie schauen mit kritischer, wenn nicht sogar verachtender Distanz auf das soziale, kulturelle und politische Leben der Region ("Pro­vinz"!), werden aber, wenn ihnen der "Absprung" geglückt ist, sehr oft im Laufe der Jahre zu glühenden Nostalgikern mit einem idyllisch-verzerrten Bild ihrer Herkunftsre­gion.

3.     Die Modernisierer der Region, die sich voll (und meistens in führenden Positio­nen) in das soziale, ökonomische und politische Leben integrieren, sich dabei aber bewußt von der Ge­schichte, der Sprache und den eigenständigen Le­bensformen ihrer Region distan­zieren. Diese gelten ihnen als obsolete Traditi­onen, als Verengungen des Horizontes und somit als Modernisierungshemm­nisse. Demgegenüber zeigen sie eine fast kritiklose Offenheit gegen­über allen Neuerungen der Metropolen, zu denen sie intensive Kon­takte pflegen. Sie sind die provinziellen Partner herkömmlicher Regionalpolitik "von oben".

4.    Die Traditionalisten identifizieren sich in teilweise militanter Form mit der Ge­schichte, Spra­che, Kultur und den Traditionen der Region, deren Wandel ih­nen als Verlust er­scheint. Von daher stemmen sie sich gegen Modernisierun­gen und sozialen Wandel und versuchen, in möglichst vielen Lebensberei­chen fremde Einflüsse abzuwehren oder vergangene Zustände wiederherzu­stellen.

5.      Die Regionalisten sehen, wie die Modernisierer, die Aufgabe der Entwicklung ihrer Region als zentral an, jedoch "nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln". Die  natur­räumlichen, hi­storischen und kulturellen Besonderheiten der Region sind für die Regio­nalisten positive Werte und der Ausgangspunkt jeder Regio­nalentwicklung. Modernisie­rung hat hierauf auf­zubauen und gewinnt somit ein regionales Profil, mit dem sich die Bewohner der Region identifizieren kön­nen und das die Region für Außenstehende un­verwechselbar macht.

 

Michel Bassand unterstreicht, daß diese Typologie in der politischen Realität nur Tenden­zen wie­derspiegelt und damit keineswegs ein- für allemal festgefügte Gruppierungen be­schrieben werden. Die Profilierung dieser Tendenzen ist zudem sehr unterschiedlich aus­geprägt: während in einigen Regionen schon sehr deut­lich umfassende regionale Entwick­lungskonzepte der einen oder anderen Ten­denz zueinander in Konkurenz treten, ist dies in vielen Regionen erst ansatz­weise und allenfalls an den Auseinandersetzungen über Einzel­projekte erkennbar der Fall.

 

These 8

Kulturelle Dynamik als Treibsatz von Regionalentwicklung entfaltet sich in der Ausein­anderset­zung über unterschiedliche Modernisierungsvorstellungen ange­sichts einer Krise herkömmlicher Handlungsroutinen: Wenn "potentielle Emigran­ten" ihre Koffer packen, die "Modernisierer" nach neuen Wegen suchen, die "Traditionalisten"ihren Nachwuchs zu verlieren drohen, dann ist die Zeit reif für einen nach vorne schauenden Regionalis­mus.

 

Regionalismus führt Gruppen zusammen, die vorher gegeneinander abgeschot­tet waren. Er er­leichtert Kommunikation und Konsensbildung durch die Mobili­sierung gemeinsamer regiona­ler Hintergrundüberzeugungen. Die einseitige Au­ßenorientierung der "Modernisie­rer" und die regio­nale Binnenorientierung der "Traditionalisten" können einer "weltoffe­nen" Regionsbezo­genheit ("Global den­ken, regional handeln") weichen.

 

Die Einrichtung regionaler "Strukturkonferenzen" in Niedersachsen geht im Kern auf regio­na­listi­sches Gedankengut zurück. Im Unterschied allerdings zu techno­kratischen Konzep­ten regionaler Strukturpolitik der Vergangenheit läßt sich "Re­gionalismus" nicht planen. Regiona­lismus ist ein kultureller Prozeß, der von "kultu­reller Demokratie" lebt. Kulturelle Demokratie wiederum ist auf institutionelle Vor­kehrungen gegen Vermarktungszwänge, einseitige Pro­grammierung "von oben" und bürokratische Kanalisierungen angewiesen. Die Freisetzung kultureller Dy­namik in kultureller Demokratie ist der wichtigste Beitrag, den regionale Kultur­politik für Regionalentwicklung leisten kann. Erst wenn dieses Fundament gesi­chert ist und sorgfältig gepflegt wird, kann sich die Sub­stanz bilden, die Regionen auch nach außen "unver­wechselbar" macht. Diese Reihenfolge wird heute zu­nehmend ver­drängt.

  

Zitierte Literatur

Bassand, Michel: Culture and Regions of Europe. Strasbourg: Council of Europe, 1993

Bausinger, Hermann: Europa der Regionen: Kulturelle Perspektiven. In: Leviathan 4/1993, S. 471-492

Die Weiße Mappe. Antwort der Niedersächsischen Landesregierung auf die ROTE MAPPE 1994 des Niedersächsischen Heimatbundes e.V., Hannover 1994

Glaser, Ulrich/Röbke, Thomas: Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutsch­land. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung? In: Aus Politik und Zeitge­schichte, B 40/93, S. 9-15

Herrenknecht, Albert: Thesen zur Kulturarbeit in der Provinz. In: Kulturpolitische Mit­teilun­gen 53, 11/1991, S. 29-31

Kruse, Heinz: Reform durch Regionalisierung - Eine politische Antwort auf die Um­struktu­rie­rung der Wirtschaft. Frankfurt/New York: Campus, 1990

Stüdemann, Jörg: Soziokulturelle Zentren im Umfeld der Neuen Sozialen Bewe­gungen. In: Schwencke, O. u.a. (Hrsg.): Kulturelle Modernisierung in Europa, Re­gionale Identitä­ten und soziokulturelle Konzepte. Hagen: Kulturpolitische Gesell­schaft, 1993, S. 217-240

Weber, Raymond: Soziokultur in der Europäischen Kulturpolitik. In: Schwencke, O. u.a. (Hrsg.): A.a.O., S. 181-193

Wilke, Reinhard: Staat und Kulturförderung. Zehn Jahre regionale Kulturpolitik des Landes Nie­dersachsen. Sögel: Emsländische Landschaft, 1985