Regionale Kultur als Entwicklungsfaktor
Kritische Anmerkungen zu aktuellen Trends regionaler Kulturförderung
(aus: Neues Archiv für Niedersachsen 1/95: 127-136)
Vorbemerkungen
Zu den Gemeinplätzen des regionalpolitischen Diskurses gehört inzwischen die Klage über die begrenzte Wirksamkeit herkömmlicher regionaler Strukturpolitik. Die im Raumordnungsgesetz von 1964 und in der 1969 fixierten Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" formulierten Wachstums-, Stabilitäts- und Ausgleichsziele sind - so die überwiegende Meinung - nur begrenzt erreicht, wenn nicht sogar durch andere sektorale Politikbereiche (Forschungsförderung, lnfrastrukturpolitik) konterkariert worden. "Der Erfolg der Regionalpolitik ist nicht bezifferbar" (Kruse 1990: 68) - dieses Urteil eines Regierungsdirektors aus dem Regierungspräsidium Arnsberg bestätigt nur, was viele Praktiker denken und zuvor wissenschaftlich wiederholt bestätigt wurde.
Die dieser regionalen Strukturpolitik zugrundeliegenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehrmeinungen, insbesondere das Export-Basis-Konzept, gehören dagegen nach wie vor zu den zentralen Orientierungsmarken nicht nur bürokratischer Planungsstäbe, sondern mehr noch regionaler und lokaler Wirtschaftsvertreter und Politiker. Gerade diese Orientierungen haben aber dazu beigetragen, daß sich "regionale Strukturpolitik im praktischen Vollzug von anderen ökonomischen, sozialen und ökologischen Bedingungen des Wirtschaftens" (a. a. 0.: 66) isoliert und auf ein ökonomistisch verengtes Verständnis von Regionalentwicklung zurückgezogen hat.
Während das Unbehagen über die "Inflexibilität" der herkömmlichen Regionalpolitik "hinsichtlich lokaler oder regionaler Besonderheiten" (a. a. 0.: 69) inzwischen zu einigen Korrekturen und in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sogar zu Ansätzen einer Regionalisierung geführt hat, reduziert sich das Verständnis von "lokalen oder regionalen Besonderheiten" weithin immer noch auf herkömmliche Indikatoren wie Industriestruktur, Qualifikationsniveau, Beschäftigungsstruktur, Arbeitslosenquoten, Lohnniveau und Infrastruktur. "Weiche" Standortfaktoren spielen nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle, ganz zu schweigen von regionalen Wertorientierungen und Normen des Alltagslebens, die bei regionalpolitischen Entscheidungsträgern allenfalls noch auf der Vorurteilsebene präsent sind.
Kultur als Faktor von Regionalentwicklung gerät unter diesen Bedingungen nur insoweit ins Blickfeld, als dieser Bereich (potentiell) meßbare Effekte für eine Steigerung der regionalen Wertschöpfung verspricht. Daß hiermit nur ein kleiner Wirkungsausschnitt von "Kultur" erfaßt wird, sollen die folgenden kommentierten Thesen deutlich machen. Sie weisen in der Kritik an einem verkürzten Kulturbegriff und darauf aufbauender Kulturförderung auf Zusammenhänge zwischen Regionalentwicklung und "Kultur" hin, deren Grundmuster bereits in der klassischen Analyse Max Webers über "Die protestantische Ethik und den 'Geist' des Kapitalismus" (1905/1920) herausgearbeitet wurden.
Die Entdeckung der Kultur als regionaler Wirtschafts- und Standortfaktor: Folgeprobleme
These 1
Die Mobilisierung öffentlicher und privater Gelder für die regionale Kulturförderung fällt bei zunehmender Mittelknappheit umso leichter, je unmittelbarer die ökonomischen Effekte einzelner Fördermaßnahmen nachzuweisen oder zumindest plausibel zu machen sind.
Die "Erfolgs- und Wirkungskontrolle" herkömmlicher regionalpolitischer Investitionszuschüsse beschränkt sich bis heute weitgehend auf den höchst fragwürdigen und wenig aussagekräftigen Indikator der neu geschaffenen oder gesicherten Anzahl von Arbeitsplätzen. Diese Zahlen werden den Antragsunterlagen der Subventionsempfänger entnommen. Eine nachträgliche Überprüfung der tatsächlich eingetretenen Effekte findet nicht statt (vgl. u. a. Kruse 1990:69). Ebensowenig interessiert bei dieser Quantifizierung die Qualität der neu eingerichteten oder gesicherten Arbeitsplätze. Investitionszuschüsse für Industrieansiedlungen in Fördergebieten führen daher in der Regel zu einer Senkung der Quote hochqualifizierter Arbeitsplätze des regionalen Arbeitsmarktes, die wiederum die Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte und Schulabsolventen sowohl aus der Region ("brain-drain") als auch aus dem mittelständischen Sektor ("Facharbeitermangel") verstärkt.
In merkwürdigem Kontrast zu der bei hohem Mitteleinsatz vergleichsweise laxen und qualitativ unbefriedigenden Wirkungskontrolle herkömmlicher regionalpolitischer Subventionspolitik stehen die Erwartungen, die an den Effizienznachweis kultureller Investitionen geknüpft werden: Am überzeugendsten wirken Berechnungen, die beispielsweise an der Zahl der Besucher eines kulturellen Ereignisses ("event") die in eine Stadt oder Region geflossene zusätzliche Kaufkraft kalkulieren. Fast alle Kulturveranstalter stehen heute unter dem Druck, die überlokale/überregionale Ausstrahlung ihrer Projekte und Einrichtungen vor dem Hintergrund dieses Kalküls nachzuweisen. Der quantifizierte Indikator "Publikumsresonanz" wird damit zum wichtigsten Maßstab der Wirkungskontrolle kultureller Aktivitäten. Je weniger dieser Indikator als Effizienznachweis ins Feld geführt werden kann, desto aufwendiger muß die argumentative Rechtfertigung kultureller Projekte gegenüber öffentlichen wie privaten Geldgebern gestaltet werden.
These 2
Je stärker kurzfristig kalkulierte ökonomische Rentabilitätsmaßstäbe an kulturelle Investitionen angelegt werden, desto mehr wird sich Kulturförderung nach den Maßstäben professioneller Werbung auf die mediale Inszenierung von "events" und "highlights" verlegen.
Neben den Indikator "Publikumsresonanz" tritt als Effizienzmaßstab schon im Vorfeld kultureller Ereignisse die mediale Präsenz kultureller Vorhaben und Aktivitäten in den Vordergrund. Die Spannweite reicht hier von öffentlich ausgetragenen Investitionswettläufen der Metropolen in neue Kunst- und Kulturstätten über aufwendige Imagekampagnen bis hin zu auflagenstarken Produktionen unzähliger Hochglanzbroschüren. Als Beurteilungsmaßstab und Erfolgsnachweise für Geldgeber/Investoren verdrängen Publikationen und ereignisbegleitende "Pressespiegel" qualitative Maßstäbe der Publikumsresonanz oder Wirkung von Kulturarbeit.
"Kultursommer überall, Kulturpolitik als ganzjährliches Aushängeschild, Kulturfreundlichkeit als Standortkriterium sind die neuen Leitbilder auch der ländlichen Kulturszene" (Herrenknecht 1991 : 29). Die unkritische Übernahme von Marketingmaßstäben städtisch-metropolitaner Kulturpolitik reproduziert bzw. verstärkt dabei jedoch vorhandene Ungleichgewichte: "Nur nachholende Kulturarbeit bleibt negativ-provinziell, denn sie ändert nichts am Grundzustand der Provinz." (A.a.o.)
These 3
Ökonomisches Rentabilitätsdenken und die Zwänge professioneller Vermarktung begünstigen aktualitäts- und konsumorientierte sowie zentralistische Produktionsmuster von Kultur gegenüber langfristig angelegter, partizipatorischer und dezentralisierter Kulturarbeit.
Das in den 70er Jahren im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs insbesondere vom Europarat ausgearbeitete kulturpolitische Leitbild der Entwicklung "kultureller Demokratie" (vgl. Weber 1993: 182 ff) stellte für die kulturellen Aspekte gesellschaftlicher Modernisierung das "Kreativitätsbedürfnis des Einzelnen, die Lebensqualität, endogene Entwicklung, Kommunikation und Partizipation" (a. a. 0.: 183) in den Vordergrund. Dieses Leitbild führte weit über die Konzeption der "Demokratisierung von Kultur" hinaus, die Hilmar Hoffmann 1979 mit dem Slogan "Kultur für alle" popularisierte.
Während sich Hoffmanns Konzeption im nahtlosen Übergang zur Entdeckung der Kultur als Wirtschafts- und Standortfaktor in den 80er Jahren mit allen eben angedeuteten Folgen durchsetzte, blieb das Leitbild "kultureller Demokratie" lange Zeit ein subkulturelles Phänomen, dem allenfalls unter dem Stichwort "Soziokultur" gewisse kommunal und staatlich garantierte Freiräume zugestanden wurde.
Schon die ursprünglich kulturpädagogisch orientierte Konzeption einer "Demokratisierung von Kultur" zeigte eine einseitige Orientierung auf hochkulturelle Angebotskultur. Zunehmende Vermarktungszwänge ließen aus Angebotskultur ein Konsumgut mit hohen Investitionskosten und sorgfältig gepflegtem Markenartikel-Charakter werden. Diesem Sog konnte sich auch soziokulturelle Kulturarbeit nur schwer entziehen (vgl. Glaser/Röbke 1 993: 14).
In dem Maße, in dem sich ursprünglich alternative "soziokulturelle Zentren" professionalisierten und soziokulturelle Projekte in ihren Vermarktungsanstrengungen zu hochkultureller Konsumkultur aufschlossen, stieg auch die offizielle kulturpolitische Akzeptanz der "Soziokultur" - und sei es um den Preis ihrer Anerkennung als Instrument "präventiver Sozialpolitik" (Stüdemann 1993 237).
Die im Selbstverständnis der maßgeblichen Akteure auch als Beitrag zur regionalen Innovationsförderung begriffene Zentralisierung der niedersächsischen Soziokultur-Förderung zu Lasten dezentralisierter Förderansätze stellt allerdings sowohl neuere Ansätze der Regionalpolitik als auch das ursprüngliche Konzept von Soziokultur politisch-administrativ auf den Kopf. Dabei ist es überaus fraglich, ob unsinnige Polarisierungen zwischen "Soziokultur" und "Heimatpflege", wie sie unlängst zu lesen waren, eine zentralisierte Förderpolitik rechtfertigen können.
Soziokultur - Kulturelle Demokratisierung ländlicher Kulturarbeit "von oben"?
These 4
Wenn Soziokultur auch in ländlichen Gebieten eine "kulturelle Praxis" bezeichnen soll,
"die den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtert; die die gestalterische Selbsttätigkeit möglichst vieler Menschen fördert und ihre ästhetischen, kommunikativen und sozialen Fähigkeiten entfalten hilft, die die alltägliche Lebenswelt einbezieht" (Die Weiße Mappe 1994 : 3),
dann enthält dieses Begriffsverständnis nicht nur die kulturpädagogischen Elemente einer "Kultur für alle", sondern auch die Anerkennung lebensweltlichen und subkulturellen "Eigen-Sinns" (vgl. Bausinger 1993: 486) im Sinne "kultureller Demokratie", der politisch-administrativ Rechnung zu tragen ist.
Gegenüber einer vorschnellen Polarisierung zwischen importierter oder "aufgepfropfter" Soziokultur und "gewachsener" ländlicher Kulturarbeit beteuert die "Weiße Mappe", "wesentlich" für soziokulturelle Arbeit im ländlichen Raum sei "ein Sicheinlassen auf die vorhandenen Strukturen" (a. a. 0., S.4). Damit wird die Balance zwischen kulturpädagogischen Modernisierungsvorstellungen zentraler Mittelvergabestellen und der Anerkennung vorgefundenen "Eigen-Sinns" zum entscheidenden Prüfkriterium für die Ernsthaftigkeit dieser Beteuerung. Setzt man in diesem Punkt "guten Willen" voraus, gilt dennoch: Schon der zentralisierte Wettbewerb um knappe Mittel und die daraus folgenden Selbstvermarktungszwänge der konkurrierenden Projekte lassen es fraglich erscheinen, ob unter diesen Bedingungen die von Herrenknecht geforderte Extensivierung ländlicher Kulturarbeit durchzuhalten ist: "Kulturarbeit in der Provinz muß ein Extensivierungsprogramm sein: Extensiv in der Ausdehnung, um alle potentiellen Kulturträger anzusprechen. Extensiv in der Offenheit des Angebots und des Dialogs. Extensiv in der Bestimmung des Wachstumstempos durch die Betroffenen selbst, in der Anerkennung des menschlichen Maßes und der provinziellen Zeitkategorien (Kontinuitätsgebote). Extensiv wie ein ausgespanntes Sonnensegel, das die Energien des Raumes bündelt und zu einer neuen Energieform vereint, in der das Ganze mehr ist als seine Teile. " (Herrenknecht 1991: 30).
Die äußeren Bedingungen eines Wettbewerbs um zentral vergebene Mittel haben eigendynamische Rückwirkungen auf die inhaltliche Gestaltung und Durchführung soziokultureller Projekte. Wichtiger ist allerdings, daß diese Art der Förderung zu einem kulturellen Sparten- und bürokratischen Ressortdenken zurückführt, das in einem diamentralen Gegensatz zu allen Ansätzen moderner Regionalentwicklungspolitik gerade auch in Niedersachsen steht: Während regionale Strukturpolitik zunehmend auf kommunikative Vernetzung und dezentrale Konsensbildung regionaler Akteure in "Regionalkonferenzen" setzt, führt spartenbezogene zentralisierte Kulturförderung gerade nicht zu einer Bündelung der kulturellen "Energien des Raumes", sondern zu ihrer Zersplitterung. Damit dementiert sich die Programmatik niedersächsischer Soziokulturförderung durch ihren administrativen Vollzug.
These 5
Kulturarbeit in ländlichen Randregionen ist heute mehr denn je in einen Kontext gestellt, in dem es um die Selbstbehauptung dieser Regionen gegenüber administrativer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Enteignung von Selbst-Bewußtsein, Eigen-Sinn und eigenständigen Entwicklungsmöglichkeiten geht. Kulturarbeit wird damit zu einem konstitutiven Element von Regionalentwicklung, die als Querschnittsaufgabe nur dezentral und partizipatorisch zu organisieren ist.
Den Zusammenhang zwischen Kulturförderung und Regionalentwicklung thematisierte Reinhard Wilke als Abteilungsleiter im niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst bereits vor über 15 Jahren, als es um die Einrichtung des ersten "Modellversuchs zur Verbesserung der kulturellen Infrastruktur (!) Ostfrieslands", d. h. der später auch auf andere Regionen Niedersachsens ausgeweiteten "Regionalprogramme" ging: "Kulturelle Bildung ist über die postulierte Chancengleichheit hinaus auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie die schöpferischen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen im intellektuellen und emotionalen Bereich weckt und Wechselbeziehungen zwischen diesen Fähigkeiten und Kräften herstellt." (R. Wilke 1985 : 11).
Dem breit angelegten Kulturverständnis dieser "Regionalprogramme" entsprach selbstverständlich auch eine politisch-administrative Dezentralisierung der organisatorischen Förderpraxis, für die man sich zumindest im erwähnten Modellversuch eine Einrichtung suchte, die jenseits politisch-administrativen Ressortdenkens angesiedelt ist, demokratisch legitimiert ist und damit weniger in Gefahr gerät, inhaltliche Innovationen bürokratischen Routinen unterzuordnen. Wenn diese Regionalprogramme nicht allerorten - wie argumentiert wird - gehalten haben, was sie versprachen, dann ist deren Abschaffung ohne nähere Untersuchung der administrativen Rahmenbedingungen ihrer Durchführung kurzschlüssig. Die Wiedereinführung zentralistischer und ressortgebundener Förderstrukturen verstärkt, was sie zu kurieren vorgibt - sie ist in erstaunlicher Weise anachronistisch.
Regionalentwicklung als kultureller Prozeß
These 6
Die seit einigen Jahren forcierte Regionalisierungsdiskussion in Niedersachsen ist eine politische Konsequenz aus der Einsicht in die begrenzten Wirkungsmöglichkeiten herkömmlicher Regionalpolitik "von oben" (vgl. Vorbemerkungen). In ihrer administrativen Umsetzung konkurrieren allerdings die unterschiedlichsten Vorstellungen und Interessen. Die Kulturpolitik des Landes zeigt sich zudem gänzlich unberührt von den laufenden Reformüberlegungen. Hier sind Klarstellungen dringend notwendig.
Das bunte und ungeklärte Nebeneinander von Wirtschaftsregionen (Einrichtung von Regionalkonferenzen), grenzüberschreitenden Regionen (EDR, Neue Hanse Interregio), Verwaltungsregionen (Weser-Ems: "Wir wachsen, zusammen!"), Zweckverbands- bzw. Planungsregionen (Großraum Hannover, Bremen/ Bremerhaven-Oldenburg), Verbandsregionen der Tourismus-Werbung ("Schlenderland"!), EG-Strukturförderungsgebieten (Ziel 5b), Lehrerfortbildungsregionen, "Landschaften" etc. hat seine Ursache in einer taktisch beliebigen und inflationären Verwendung des Regionsbegriffs. In dieser scheinbaren Beliebigkeit spiegeln sich unterschiedliche institutionelle Beharrungskräfte und Interessen sowie widersprüchliche Regionalisierungsvorstellungen: "Regionalisierung" tritt auf als kulturell angereicherte Fortsetzung der Zweckverbandsdiskussion, als Instrument zur Behauptung oder Stärkung administrativer Mittelinstanzen, als Strategie von Ministerien zur Entlastung von Koordinationszwängen, als Mobilisierungsansatz für endogene Potentiale jenseits eingespielter Verwaltungsroutinen oder als Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips nach innen (Binnenföderalismus).
Gegenüber dieser Vielfalt von Regionalisierungsvorstellungen und -interessen sollte die Diskussion auf die Kernpunkte des in den 70er Jahren einsetzenden Paradigmenwandels der Regionalpolitik zurückgeführt werden, mit dem die Bemühungen von Wirtschaftsadministrationen, Politikern und Regionalwissenschaftlern bezeichnet werden, neue Wege von Regionalentwicklung zu erproben: statt "abhängiger Entwicklung" Stärkung endogener Prozesse von Regionalentwicklung, statt politischer Steuerung "von oben" (Interventionsstaat) konsequente Dezentralisierung nach dem Subsidiaritätsprinzip, statt kultureller und politischer Apathie Partizipation, statt sektoral isolierter Entwicklungsprojekte "integrierte" Regionalentwicklung. In diesem Konzept kann "Region" ohne kulturelle Identitätskomponente nicht gedacht werden. Diese Identitätskomponente ist außerdem durch technokratisches Identitätsmanagement und Image-Marketing nicht zu ersetzen: die Dynamik regionalkultureller Vergesellschaftung folgt einem anderen Takt als die Dynamik ökonomischer oder politisch-administrativer Planungsräume.
These 7
"Region ist nicht nur eine kulturhistorisch geprägte Einheit, sondern auch ein aktueller Kommunikationsraum" (Bausinger 1993: 474). Regionale Kulturpolitik, die als Grundlage von Regionalentwicklung der Identitätsstärkung nach innen und der Profilbildung nach außen dienen soll, hat zu berücksichtigen, daß eine Region genauso viele Facetten hat, wie ihre Bevölkerung nach Interessen und Lebensweisen vielfältig ist.
Ausgangspunkt jeder Debatte über regionale Kulturpolitik sollte die Minimaldefinition von "Region" in der "Regionalisierungscharta" des Europäischen Parlaments vom November 1988 sein:
1. Im Sinne dieser Charta versteht man unter Region ein Gebiet, das aus geografischer Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber ein gleichartiger Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefüge darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus resultierenden Eigenschaften bewahren und weiterentwickeln möchte, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben.
2. Unter gemeinsamen Elementen einer bestimmten Bevölkerung versteht man gemeinsame Merkmale hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Tradition und der Interessen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrswesens. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß all diese Elemente immer vereint sind. '
Regionsbildung ist also nicht nur ein "traditionalistisches" Relikt vormoderner Lebenszusammenhänge, sondern vor allem ein kontinuierlicher gesellschaftlicher und politischer Verständigungsprozeß, in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständigen und regionsverträglichen Modernisierung geht. Erleichtert wird diese Konsensbildung durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen. Regionale Identität aktualisiert sich im gemeinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines historisch-kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls. Ein wichtiges Symbol dieses Zusammengehörigkeitsgefühls ist oftmals die Regionalsprache bzw. ein regionaler Dialekt, obwohl beides keine notwendige Voraussetzung für Regionsbildung und regionale Identität, sondern nur deren Ausdruck ist.
Regionale Identität steht als Orientierungshilfe für Gemeinschaftsbildung und gemeinschaftliches Handeln auch in ländlichen Regionen in Konkurrenz oder quer zu räumlich indifferenten Orientierungen nach Schichtungsmerkmalen, (partei-)politischen Überzeugungen, modischen oder subkulturellen Lebensstilen oder beruflichen Solidaritäten. Wird regionale Identität zu einem Thema gesellschaftlicher Diskussion, dann zeigen sich sehr schnell unterschiedliche Betroffenheiten und Einstellungen. Mit Michel Bassand (1993 : 187 f) können wir hierbei fünf Einstellungstypen unterscheiden:
1. Apathische und resignierte Regionalbewohner ohne jede Beziehung zur oder Bindung an die Region. Sie sind "isolierte und unkritische Konsumenten der Massenkultur."...... Sie werden von diesen Auseinandersetzungen nicht (mehr) erreicht. Apathie als Phänomen kultureller Entfremdung oder Enteignung ist gerade in Randregionen häufig anzutreffen.
2. Die potentiellen Emigranten, die sich ebenfalls nicht mit ihrer Region identifizieren, dafür aber, anders als Gruppe 1, persönliche Vorstellungen und Pläne haben, die in ihrer Heimatregion nicht umzusetzen sind. Sie schauen mit kritischer, wenn nicht sogar verachtender Distanz auf das soziale, kulturelle und politische Leben der Region ("Provinz"!), werden aber, wenn ihnen der "Absprung" geglückt ist, sehr oft im Laufe der Jahre zu glühenden Nostalgikern mit einem idyllisch-verzerrten Bild ihrer Herkunftsregion.
3. Die Modernisierer der Region, die sich voll (und meistens in führenden Positionen) in das soziale, ökonomische und politische Leben integrieren, sich dabei aber bewußt von der Geschichte, der Sprache und den eigenständigen Lebensformen ihrer Region distanzieren. Diese gelten ihnen als obsolete Traditionen, als Verengungen des Horizontes und somit als Modernisierungshemmnisse. Demgegenüber zeigen sie eine fast kritiklose Offenheit gegenüber allen Neuerungen der Metropolen, zu denen sie intensive Kontakte pflegen. Sie sind die provinziellen Partner herkömmlicher Regionalpolitik "von oben".
4. Die Traditionalisten identifizieren sich in teilweise militanter Form mit der Geschichte, Sprache, Kultur und den Traditionen der Region, deren Wandel ihnen als Verlust erscheint. Von daher stemmen sie sich gegen Modernisierungen und sozialen Wandel und versuchen, in möglichst vielen Lebensbereichen fremde Einflüsse abzuwehren oder vergangene Zustände wiederherzustellen.
5. Die Regionalisten sehen, wie die Modernisierer, die Aufgabe der Entwicklung ihrer Region als zentral an, jedoch "nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln". Die naturräumlichen, historischen und kulturellen Besonderheiten der Region sind für die Regionalisten positive Werte und der Ausgangspunkt jeder Regionalentwicklung. Modernisierung hat hierauf aufzubauen und gewinnt somit ein regionales Profil, mit dem sich die Bewohner der Region identifizieren können und das die Region für Außenstehende unverwechselbar macht.
Michel Bassand unterstreicht, daß diese Typologie in der politischen Realität nur Tendenzen wiederspiegelt und damit keineswegs ein- für allemal festgefügte Gruppierungen beschrieben werden. Die Profilierung dieser Tendenzen ist zudem sehr unterschiedlich ausgeprägt: während in einigen Regionen schon sehr deutlich umfassende regionale Entwicklungskonzepte der einen oder anderen Tendenz zueinander in Konkurenz treten, ist dies in vielen Regionen erst ansatzweise und allenfalls an den Auseinandersetzungen über Einzelprojekte erkennbar der Fall.
These 8
Kulturelle Dynamik als Treibsatz von Regionalentwicklung entfaltet sich in der Auseinandersetzung über unterschiedliche Modernisierungsvorstellungen angesichts einer Krise herkömmlicher Handlungsroutinen: Wenn "potentielle Emigranten" ihre Koffer packen, die "Modernisierer" nach neuen Wegen suchen, die "Traditionalisten"ihren Nachwuchs zu verlieren drohen, dann ist die Zeit reif für einen nach vorne schauenden Regionalismus.
Regionalismus führt Gruppen zusammen, die vorher gegeneinander abgeschottet waren. Er erleichtert Kommunikation und Konsensbildung durch die Mobilisierung gemeinsamer regionaler Hintergrundüberzeugungen. Die einseitige Außenorientierung der "Modernisierer" und die regionale Binnenorientierung der "Traditionalisten" können einer "weltoffenen" Regionsbezogenheit ("Global denken, regional handeln") weichen.
Die Einrichtung regionaler "Strukturkonferenzen" in Niedersachsen geht im Kern auf regionalistisches Gedankengut zurück. Im Unterschied allerdings zu technokratischen Konzepten regionaler Strukturpolitik der Vergangenheit läßt sich "Regionalismus" nicht planen. Regionalismus ist ein kultureller Prozeß, der von "kultureller Demokratie" lebt. Kulturelle Demokratie wiederum ist auf institutionelle Vorkehrungen gegen Vermarktungszwänge, einseitige Programmierung "von oben" und bürokratische Kanalisierungen angewiesen. Die Freisetzung kultureller Dynamik in kultureller Demokratie ist der wichtigste Beitrag, den regionale Kulturpolitik für Regionalentwicklung leisten kann. Erst wenn dieses Fundament gesichert ist und sorgfältig gepflegt wird, kann sich die Substanz bilden, die Regionen auch nach außen "unverwechselbar" macht. Diese Reihenfolge wird heute zunehmend verdrängt.
Zitierte Literatur
Bassand, Michel: Culture and Regions of Europe. Strasbourg: Council of Europe, 1993
Bausinger, Hermann: Europa der Regionen: Kulturelle Perspektiven. In: Leviathan 4/1993, S. 471-492
Die Weiße Mappe. Antwort der Niedersächsischen Landesregierung auf die ROTE MAPPE 1994 des Niedersächsischen Heimatbundes e.V., Hannover 1994
Glaser, Ulrich/Röbke, Thomas: Zwanzig Jahre Soziokultur in der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen jugendlichem Aufbruch und vorzeitiger Vergreisung? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/93, S. 9-15
Herrenknecht, Albert: Thesen zur Kulturarbeit in der Provinz. In: Kulturpolitische Mitteilungen 53, 11/1991, S. 29-31
Kruse, Heinz: Reform durch Regionalisierung - Eine politische Antwort auf die Umstrukturierung der Wirtschaft. Frankfurt/New York: Campus, 1990
Stüdemann, Jörg: Soziokulturelle Zentren im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen. In: Schwencke, O. u.a. (Hrsg.): Kulturelle Modernisierung in Europa, Regionale Identitäten und soziokulturelle Konzepte. Hagen: Kulturpolitische Gesellschaft, 1993, S. 217-240
Weber, Raymond: Soziokultur in der Europäischen Kulturpolitik. In: Schwencke, O. u.a. (Hrsg.): A.a.O., S. 181-193
Wilke, Reinhard: Staat und Kulturförderung. Zehn Jahre regionale Kulturpolitik des Landes Niedersachsen. Sögel: Emsländische Landschaft, 1985