Stichwort: Regionalismus (innerstaatlich)
Aus: Olaf Schwencke, Hermann Schwengel, Norbert Sievers (Hrsg.): Kulturelle Modernisierung in Europa. Regionale Identitäten und soziokulturelle Konzepte. Hagen: Kulturpolitische Gesellschaft, 1993 (vergriffen), S. 15-19
Mit Regionalismus werden innerstaatliche Prozesse der Mobilisierung gesellschaftlicher Gruppen oder soziaIer Bewegungen zur Verfolgung territorial definierter Sonderinteressen kultureller, wirtschaftlicher und/oder politischer Prägung bezeichnet.
lm Unterschied zu der für den westlichen Nationalstaat seit der französischen Revolution charakteristischen Binnengliederung nach Schichtungs- und Bereichskriterien (soziale und sektorale Konflikte; Beispiele: Arbeitnehmer/Arbeitgeber, lndustrie/ Umweltschützer) begründet der Regionalismus eine Konkurrenz zwischen einem subnationalen und einem gesamtstaatlichen Bezugsrahmen gesellschaftlicher und politischer Orientierungen und Aktivitäten. Er ergänzt die herkömmlichen innerstaatlichen Schichtungs- und Bereichskonflikte um einen dritten Konflikttypus, den territorialisierten Konflikt.
Als politischer Kampfbegriff fand der Regionalismus erstmals Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts in Frankreich weite Verbreitung. Hier kennzeichnete er die politische Gegnerschaft zur zentralistisch-restaurativen Präsidentschaft Mac-Mahons (1873 - 1879). Um 1900 hatte sich der Begriff auch in Spanien und ltalien festgesetzt. In allen drei romanischen Ländern war damit der Versuch einer sowohl literarisch-kulturellen als auch, in Verbindung mit föderalistischem Gedankengut, politischen Umbewertung des Negativbegriffs "Provinz" verbunden. Feste definitorische Konturen gewann der Begriff aber erst in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Wiederbelebung regionalistischer Strömungen nicht nur in zentralistischen Einheitsstaaten, sondern auch in föderalistischen Bundesstaaten (z. B. Kanada).
Regionalismus zeigt sich in der Verbindung von Aussagen, Orientierungen und/oder Programmelementen in den folgenden drei Dimensionen:
a) Vorausgesetzt wird die Existenz homogener Räume innerhalb bestehender Kulturräume, Nationalstaaten und/oder supranationaler Ordnungssysteme.
Die Ausgrenzung und Behauptung der Homogenität dieser Räume - der Regionen - erfolgt in Abwandlung des ursprünglichen geographischen Regionsbegriffs auf der Basis historisch-kultureller, politischer und/oder ökonomisch-systemischer Kriterien. Als Regionen gelten dabei beispielsweise Gebiete, in denen bestimmte "Volksgruppen" oder "Ethnien" anzutreffen sind, oder Gebiete, die eine eigenständige Geschichte und entsprechende lnstitutionen (z. B. Schottland: Rechtssystem etc.) aufzuweisen haben. Weniger strenge Kriterien werden angelegt, wenn Region mit "Heimat", "Brauchtum" oder "Lebensweise" assoziiert und als kulturelle "Herkunftswelt" (Lübbe) bestimmt wird. Auch Ausgrenzungen auf der Basis struktureller (z. B. wirtschaftlicher) Probleme oder Besonderheiten sowie die Artikulation politischer Sonderinteressen eines Gebietes jenseits sektoraler oder sozialer Konfliktlinien (d. h. außerhalb des nationalstaatlichen Verbände- und Parteiensystems) können zum Ausgangspunkt von Regionalismus werden.
Diese Versuche, eine gemeinschaftsbildende Eigenständigkeit von Regionen auf der Basis unterschiedlichster Kriterien zu begründen, setzten sich im Regionalismus in einen Mobilisierungsprozess um, in dem sich individuelle Akteure ihrer Bindung an eine Region, ihrer "regionalen ldentität" oder der Gleichartigkeit individueller lnteressenlagen in einem abgrenzbaren Gebiet bewusst werden und diese durch gemeinschaftliches Handeln in regionalistischen Bewegungen gezielt gegen übergeordnete ldentifikationsangebote und Steuerungsansprüche durchzusetzen. versuchen.
b) Die Ausgrenzungen einer regionalen Raumeinheit erfolgen immer im Bezug auf eine übergeordnete Raumganzheit.
Dabei werden in der Regel die Basiseinheiten der bestehenden Nationalstaaten, zunehmend aber auch supranationale Einheiten, wie Europa (z. B. "Europa der Regionen"), zugrunde gelegt. Versuche, den Begriff des Regionalismus für die Analyse internationaler Bündnissysteme oder Wirtschaftszusammenschlüsse unter dem Dach der Vereinten Nationen fruchtbar zu machen, beschränken sich weitgehend auf wissenschaftliche Spezialistendiskussionen. Die Ausgrenzungen im Bezug auf übergeordnete Raumganzheiten markieren kulturelle, ökonomische und/oder politische lnteressenorientierungen, die sich in Opposition oder bewusster Abgrenzung zum lntegrationsanspruch dieser Raumganzheiten artikulieren.
Regionalismus wird damit zu einem territorial gebundenen Gruppenphänomen, das aufgrund eben dieser territorialen Formung insbesondere den Legitimationsanspruch republikanischer Einheitsstaaten in Frage stellt, da für diese die Souveränität ihres Staatsgebietes unteilbar ist. Der Souveränität nach außen entspricht dabei der Anspruch des Einheitsstaates, auch im lnneren letztverbindlicher territorialer Bezugsrahmen für (demokratische) politische Willensbildung und Herrschaftsausübung zu sein. In Bundesstaaten wirkt der Regionalismus als Korrektiv gegenüber Tendenzen zunehmender Zentralisierung im Verhältnis von Bund und Gliedstaaten und als Instrument der Wiederbelebung des föderalistischen Subsidiaritätsprinzips innerhalb der vielfach straff zentralistisch organisierten Gliedstaaten.
c) Regionalismus versteht sich als veränderndes gesellschaftliches und politisches Gestaltungsprinzip, das in Spannung oder Konkurrenz zu grundlegenden Funktions- und Ordnungsprinzipien bestehender Staats- und Gesellschaftssysteme des 20./21. Jahrhunderts steht.
Dem Trend einer kulturellen Verarmung durch die zunehmende Internationalisierung kultureller Standards, Konsummuster und Lebensweisen wird die Verteidigung des Wertes kultureller und vor allem sprachlicher Vielfalt (bis hin zu einem "nationalen Erwachen" (Hroch) vorher als regionale "Volksgruppen" existierender Bevölkerungsteile) entgegengesetzt.
Dem Zentralismus eines bürokratischen Wohlfahrtsstaates werden Selbst- bzw. Mitbestimmung über regionale Entwicklungswege und eine höhere Toleranz für die Ungleichartigkeit der Lebensverhältnisse entgegengehalten, wobei sich hier konservative und basisdemokratische Orientierungen überschneiden. Zudem wird auf die Funktionsprobleme der bisherigen "Betriebsgröße" staatlicher Organisationen und auf deren drohende Überlastung durch zunehmende Kommunikationsdichte und Komplexität verwiesen und die Vorteile überschaubarer regionaler Selbstorganisation hervorgehoben.
Besonders gewichtig sind die Hinweise auf eine drohende wirtschaftliche Auseinanderentwicklung zwischen reichen und armen Regionen, in deren Dynamik die herkömmliche zentralstaatliche Regionalpolitik und Raumordnung kaum korrigierend eingegriffen habe. Relative Unter-, aber auch relative Überentwicklung werden damit neben kulturellen und politisch-administrativen Faktoren zu entscheidenden Triebkräften des Regionalismus
Gruppiert man regionalistische Bewegungen nach ihren Zielrichtungen, so lassen sich die folgenden Abstufungen unterscheiden:
Separatisten erheben für ihre Region Anspruch auf die Bildung eines souveränen Nationalstaates oder auf den Anschluss an ein anderes bestehendes Staatswesen. Sie stellen damit grundsätzlich und umfassend die Legitimität des gesamtstaatlichen Geltungsbereichs politischer Willensbildung und Herrschaftsausübung in Frage.
In Westeuropa bietet die Geschichte des Südtiroler, flämischen, bretonischen und elsässischen Rechtsradikalismus hierfür ebenso Beispiele wie nach dem 2. Weltkrieg die Aktionen der radikalen Flügel des baskischen, korsischen, nordirischen, wallonischen, schottischen und jurassischen Regionalismus In Osteuropa und im Gebiet der früheren UDSSR artikulierten sich viele Regionalismen mit zunehmendem Zerfall des zentralistischen Kommunismus separatistisch und knüpften damit unmittelbar an die Volksgruppen- bzw. Nationalitätenkonflikte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts an. Das größte Potential für separatistische Regionalismen bieten die ehemaligen Kolonialstaaten insbesondere in Afrika. Die staatlichen Grenzziehungen sind hier nur in Ausnahmefällen durch geschichtliche Kontinuität oder sprachlich-kulturelle ("ethnische") Homogenität abgestützt. Obwohl es fließende Übergänge zwischen allen Formen des innerstaatlichen Regionalismus und "nationalen Befreiungskämpfen" (Hroch: nationales Erwachen) gibt, werden letztere nur selten unter dem Oberbegriff Regionalismus geführt (Beispiel: Kurden).
Föderalisten sehen die gesamtstaatliche und die subnationale Territorialität als nebeneinander bestehende, aber funktional unterschiedliche Ebenen eines geschichteten institutionellen Gliederungsgefüges an. Jede Ebene bildet einen eigenständigen territorialen Bezugsrahmen und Geltungsbereich für politische Willensbildung und Entscheidungen zu den je spezifischen Aufgaben und Funktionen. Kompetenzen, die sich einer bestimmten Ebene nicht eindeutig zuordnen lassen, müssen nach Möglichkeit konsensual ausgeübt werden.
In Europa finden sich föderalistische Regionalisten Proudhonscher Ausrichtung ("integraler Föderalismus") sowohl in Südfrankreich als auch in Katalonien, Galizien und Andalusien. Hier verbindet sich ein staatsrechtlicher Regionalismus mit einer gesellschaftsphilosophischen Ausrichtung, die den Staat nach dem Subsidiaritätsprinzip "von unten nach oben" aufgebaut sehen will. Der Autonomiegedanke wird dabei nicht nur auf territoriale Ebenen beschränkt, sondern auch auf gesellschaftliche Gruppen ausgedehnt.
Tonangebend sind bei den föderalistischen Regionalisten jedoch die an mitteleuropäische Denktraditionen ("Volksgruppenbewegung") anknüpfenden Gruppierungen, die sich in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) zusammengeschlossen haben. Auch der bayerische Föderalismus hat hier seine kulturellen Wurzeln, während das neuerliche Bekenntnis der übrigen deutschen Bundesländer zu einem "Europa der Regionen" eher staatsrechtlich begründet wird. Auch die regionalistischen Bestrebungen in Kanada zur Stärkung der Provinzen gegenüber der Bundesgewalt verbleiben, ausgehend von den ethnisch-historisch motivierten Autonomiebestrebungen Quebecs, im Rahmen föderalistischen Denkens in staatsrechtlichen Kategorien. Die kurze Geschichte Nigerias, wo sich innerhalb von knapp 30 Jahren Unabhängigkelt die Zahl der Bundesländer von drei auf 21 erhöhte, zeigt die partikularisierende Sprengkraft des Volksgruppen- bzw. Ethnonationalismus, der hier nur mühsam von einer föderalistischen Staatskonstruktion aufgefangen werden kann. Ähnliches gilt für lndien, während der Föderalismus in Jugoslawien und der UDSSR den Zerfall beider Staaten nicht aufhalten konnte.
Autonomisten opponieren vornehmlich gegen das unitarische Selbstbild von der "Einheit“ und "Unteilbarkeit" moderner Zentralstaaten, ohne dass sich diese Opposition zum Separatismus radikalisiert oder zum Föderalismus verallgemeinert. Gegenüber der territorialen lndifferenz des republikanischen Einheitsstaates heben Autonomisten die territorial abgegrenzten Sonderinteressen ihrer Region als eigenständige politische Dimension hervor.
In der Regel liegt der Ausgangspunkt für einen autonomistischen Regionalismus in der Artikulation wirtschaftlicher Sonderinteressen (Kampfbegriff: "interner Kolonialismus"), wobei anfänglich, wie im Beispiel Korsikas und Südfrankreichs in den 60er und Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, die Übergänge von einer syndikalistischen Interessenpolitik regionaler Berufsgruppen (Winzer, mittelständische Unternehmer) hin zu regionalistischem Protest breiter Bevölkerungskreise fließend sind. Der autonomistische Regionalismus stützt sich vielfach auf neuere Überlegungen zu den Grenzen des Wohlfahrtstaates und der herkömmlicherweise zentral gesteuerten Regional-entwicklung "von oben". In den 1960er und 1970er Jahren wurde er insbesondere in Frankreich zum Auslöser für eine schrittweise Reform staatlicher Regionalpolitik bis hin zur Dezentralisierungspolitik Mitterrands ab 1981. Auch der unmittelbare Einfluss regionalistischer Bewegungen dieses Typs auf die Entstehung und die Formulierung des Konzepts “eigenständiger" bzw. "endogener" Regionalentwicklung ist unübersehbar.
Zu den Autonomisten zählt die Mehrzahl der (süd)westeuropäischen Regionalisten: der elsässische, okzitanische, bretonische, walisische, flämische, wallonische Regionalismus und die Mehrheit der spanischen Regionalbewegungen. Obwohl in diesen regionalistischen Bewegungen durchweg immer auch Strömungen anzutreffen sind, die die jeweiligen regionalen Probleme, lnteressen und Besonderheiten in "ethnischen" Kategorien darstellen, dominiert hier ein Problembewusstsein, das über den Horizont einer Neuauflage der Volksgruppen-bewegung der Zwischenkriegszeit hinausreicht. lm Mittelpunkt steht dabei die Suche nach neuen gesellschaftlichen und politischen Organisationsformen, die der heutigen Gleichzeitigkeit von lnternationalisierung und Regionalisierung des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens angemessen sind.
Fazit: Sieht man die hier unterschiedenen Typen des Regionalismus als Stationen eines gleichsam naturgesetzlichen Entwicklungsprozesses hin zu einem "nationalen Erwachen" (Hroch), so Iässt sich das Potential für zukünftige Separatismen kaum noch abschätzen. In Osteuropa und auf dem Gebiet der früheren UDSSR konnte dieser Prozess nach dem Wegfall der kommunistischen Integrationsideologie nicht mehr aufgefangen werden. Auch in den ehemaligen Kolonialstaaten der Dritten Welt ist die Ära nationalstaatlicher Ausdifferenzierungen offenkundig noch nicht abgeschlossen. In den westlichen lndustrieländern ist dagegen eine Gleichzeitigkeit der territorialen Binnendifferenzierung bestehender Nationalstaaten bei fortschreitender lnternationalisierung koordinierender und vermittelnder politischer Entscheidungsprozesse sowie kultureller und ökonomischer lntegrationsprozesse wahrscheinlicher.
Einführende Literaturhinweise:
M. Bassand: Culture et régions d'Europe (Lausanne 1990)
D. Gerdes: Regionalismus als soziale Bewegung: Westeuropa, Frankreich, Korsika - Vom Vergleich zur Kontextanalyse (Frankfurt/New York 1985)
G. Stiens: Zur Wiederkunft des Regionalismus in den Wissenschaften. In: Regionalismus und Regionalpolitik, lnformationen zur Raumentwicklung, Heft 5 (1980), S. 315 ff
S. Tarrow/P. Katzenstein/L. Graziano (Hrsg.): Territorial Politics in Industrial Nations (New York/London 1977)