Dirk Gerdes
Neuere Entwicklungen und Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Regionalforschung - Vom Dialog zwischen Wissenschaft und politischer Praxis
Vortrag, erschienen in: Roland Sturm (Hrsg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen – Brücken von Region zu Region. Erlangen: Zentralinstitut für Regionalforschung, 2002, S. 11-26
1. Einleitung
Es ist sicherlich ein schönes akademisches Ritual, sich definitorisch darüber zu verständigen, worüber man redet. Ich möchte Ihnen aber zunächst eine Regionsdefinition vorstellen, die nicht aus dem Wissenschaftsbetrieb stammt, sondern eine zentrale politische Bedeutung hat:
"1. Im Sinne dieser Charta versteht man unter Region ein Gebiet, das aus geographischer Sicht eine deutliche Einheit bildet, oder aber einen gleichartigen Komplex von Gebieten, die ein in sich geschlossenes Gefüge darstellen und deren Bevölkerung durch bestimmte gemeinsame Elemente gekennzeichnet ist, die die daraus resultierenden Eigenheiten bewahren und weiterentwickeln möchte, um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben.
2. Unter 'gemeinsamen Elementen' einer bestimmten Bevölkerung versteht man gemeinsame Merkmale hinsichtlich der Sprache, der Kultur, der geschichtlichen Tradition und der Interessen im Bereich der Wirtschaft und des Verkehrswesens. Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß alle diese Elemente immer vereint sind.“ (Hrbek/Weyand 1994: 177 f).
Ich glaube, es wird nur wenige unter Ihnen geben, die dieser Definition spontan erst einmal nicht zustimmen können. Doch schauen wir genauer hin.
Am 18.11.1988 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung zur Regionalpolitik sowie ein Grundsatzpapier, das als Regionalisierungscharta (Hrbek/Weyand 1994: 177-181) bekannt wurde. Kap. I, Artikel 1 dieser Europäischen Regionalisierungscharta ist die obige Definition entnommen.
Die Regionalisierungscharta markiert regionalpolitisch eine Umbruchsituation. Sie läßt sich als Zwischenbilanz eines transnationalen politischen Diskurses lesen, in dem die durch den Aufstand der Provinz (Gerdes 1980) seit den 60er Jahren artikulierten regionalistischen Autonomieforderungen einerseits an die Tradition der Volksgruppenbewegung (Schulz 1993; Gerdes 1985: 46ff) rückgekoppelt wurden, andererseits in innovative Regionalentwicklungskonzepte (Ellwein/Mittelstraß (Hg.) 1996; Bullmann/Heinze (Hg.) 1997) überführt wurden.
Dieser vor allem in Westeuropa geführte Diskurs kann wie kaum ein anderes Beispiel deutlich machen, wie intensiv die Prozesse der Formulierung wissenschaftlicher und politischer Wirklichkeitskonstruktionen ineinandergreifen, wenn bewegungsförmige kulturelle, soziale oder politische Umbrüche neue Realitätsinterpretationen und Handlungsorientierungen erzwingen und hervorbringen. Einige Grundzüge dieses Diskurses der vergangenen 30 Jahre möchte ich Ihnen in meinem Vortrag noch einmal in Erinnerung rufen.
2 Ethnizität oder Autonomie? Der Beitrag regionalistischer Bewegungen zum regionalpolitischenParadigmenwandel
Die drei Komponenten der neueren westeuropäischen Regionalisierungsdiskussion, also
· die zunächst überraschende Artikulation regionaler Sonderinteressen und regionalistischer Autonomieforderungen seit den 60er Jahren,
· die Wiederbelebung der Ethnizitätsdiskussion und
· die Formulierung und Umsetzung innovativer Ansätze von Regionalentwicklung
bestimmen bis heute die Konturen und Perspektiven der Politik der dritten Ebene (Bullmann (Hg.) 1994) im Prozeß der Fragmentierung staatlicher Steuerungsinstanzen. Die folgenden Ausführungen dienen der Rekonstruktion dieses Prozesses.
2.1 Region als persistenter Kulturraum
Die auf europäischer Ebene einflußreichste pressure group für die politische Anerkennung und Institutionalisierung traditionaler kultureller Binnendifferenzen in einem Europa der Regionen ist bis heute die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) (Gerdes 1985: 83ff). Sie definiert Volksgruppen (frz.: Communautés Ethniques) als
"volkliche Gemeinschaft, die durch Merkmale wie eigene Sprache, Kultur oder Traditionen gekennzeichnet ist. Sie bildet in ihrer Heimat keinen Staat oder ist außerhalb des Staates ihrer Nationalität beheimatet (nationale Minderheit)." (Straka (Hg.) 1970: 34).
Es ist kein Zufall, daß die objektivistischen Merkmalsbestimmungen dieser Volksgruppen-Definition mit dem kulturräumlichen Regionsbegriff der Regionalisierungscharta nahezu identisch sind.
Die FUEV hat zunächst über den Europarat (Europakonferenz der Gemeinden und Regionen) und schließlich auch durch ihr nahestehende Abgeordnete des Europaparlaments (seit dessen erster Direktwahl 1979) in einer durchgängigen Serie von Entschließungsanträgen versucht, eine Realitätsdefinition von Regionalkonflikten durchzusetzen, die diese in Kontinuität zur Volksgruppenproblematik der Zwischenkriegszeit interpretiert.
Alle diese Vorstöße zielten im wesentlichen auf die Erweiterung des individualrechtlich orientierten völkerrechtlichen Minderheitenschutzsystems auf den Schutz und die Förderung von Gruppenrechten sowie die Einräumung entsprechender kollektiver Beschwerde- und Klagerechte (Gerdes 1980a: 126ff) und/oder auf die institutionelle Repräsentation von Volksgruppen bzw. Regionen auf staatlicher und europäischer Ebene (Gerdes 1985: 86ff; Schulz 1993: 229ff).
Über die romantisch-essentialistische Volkstumsmythologie der älteren Volksgruppenbewegung und ihre problematische Erbschaft möchte ich an dieser Stelle nicht noch einmal diskutieren (vgl. Gerdes 1980b). Festzuhalten ist lediglich, daß die Verknüpfung der (süd-)westeuropäischen Regionalisierungs- und Föderalisierungsdiskussion mit der mitteleuropäischen Volksgruppentradition (Gerdes 1985: 81ff) bis heute Befürchtungen und Vorbehalte gegenüber einem „regionalen Nationalismus“ weckt.
Diese Befürchtungen – heute vor allem durch die ethnischen Konflikte östlich des früheren "Eisernen Vorhangs" genährt – spiegelten zunächst nur ein abstraktes Common sense - Modernitätsbewußtsein der Nachkriegszeit, in der jeder Bezug auf ethnische Identitäten als unzeitgemäße Regression auf vormoderne kollektive Bewußtseinszustände galt.
Dieser in Wissenschaft und öffentlicher Meinung weit verbreiteten Abwehrhaltung gegenüber einer Ethnisierung von Kultur und Politik stand jedoch schon in den 70er Jahren eine unvermittelte, ebenso abstrakte Akzeptanz des wissenschaftlichen Umgangs mit ethnischen Begrifflichkeiten gegenüber: Wenn regionalistische Bewegungen in dieser Frühphase vom sozialwissenschaftlichen mainstream überhaupt wahrgenommen wurden, dann allenfalls als vermeintliche Träger einer Reaktivierung persistenter traditionaler ethnischer Bruchlinien oder Konfliktkonstellationen des nation-building, die von historisch später aufgetretenen, inzwischen aber entschärften und wieder in den Hintergrund getretenen Konfliktlinien überdeckt worden seien (Lijphart 1977: 60f).
Den vergleichsweise fragmentierten und zunehmend instabilen Status- oder Interessen-bezogenen individuellen Gruppenidentifikationen wurden traditionale, durch kulturelle Prägungen determinierte Gruppenidentitäten gegenübergestellt. Dittrich und Radtke ziehen eine gerade Linie von der problematischen Erbschaft der Volksgruppenbewegung zum objektivistischen Ethnizitätsbegriff der Sozialwissenschaftler:
"Ethnische Herkunft und ethnische Prägung durch eine Gruppenkultur werden einlinig mit individuellen Handlungsmöglichkeiten und -chancen in Verbindung gebracht. Die Individuen werden (...) zu Gefangenen ihrer Herkunftskultur. (...) Die Idee des 'Volksgeistes' oder der 'völkischen Eigenart' (...) bleibt auch nach dem Reinigungsbad in der modernen sozialwissenschaftlichen Theorie an dem Konzept "Ethnizität" erkennbar." (Dittrich/Radtke 1990: 29).
Das Persistenztheorem der Ethnizität profilierte sich in den 80er Jahren als ein weithin akzeptiertes alternatives Erklärungsmuster zum universalistischen Evolutionsmodell der Modernisierung (Assmann 1994: 28).
Kulturrelativismus und „multikultureller“ Ethnopluralismus (vgl. Taylor 1997, polemisch dazu: Tibi 2000) wurden schließlich zu postmodernen Varianten des Gegenseitigkeits-Nationalismus der alten Volksgruppenbewegung.
Im Unterschied zu diesen voreiligen, oft ideologischen Generalisierungen begründet die Regionalisierungscharta des Europäischen Parlaments von 1988 die Legitimität politischer Regionalisierungsforderungen jedoch nicht nur durch den Verweis auf die vermeintliche Persistenz ethnischer bzw. kultureller Merkmale. Sie ordnet diesen Merkmalen auch gemeinsame Interessen zu. Ebenso deutlich wird als Kennzeichen einer Region der Wille ihrer Bevölkerung vorausgesetzt, die in den gemeinsamen Merkmalen zum Ausdruck kommenden Besonderheiten zu bewahren und weiterzuentwickeln, "um den kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt voranzutreiben."
Diese voluntaristische Komponente wird in den persistenztheoretischen Erklärungsversuchen des westeuropäischen Regionalismus regelmäßig unterbelichtet. Grundsätzlich zu kurz greifen andererseits aber auch Versuche, regionale Identität durch Regionalmarketing und regionales Identitäts-Management politisch-voluntaristisch erst zu erzeugen. Es muß also gefragt werden, welche gesellschaftlichen Akteure in welchen Prozessen eine Region zu einem politischen Subjekt werden lassen.
2.2 Region als kollektiver Akteur ?
Die politische Behauptung oder der wie auch immer geführte wissenschaftliche Nachweis der Existenz eines subnationalen Identitätsraumes erklären für sich genommen keinen einzigen Regionalkonflikt. Herauszuarbeiten wäre daher als erstes der relative Stellenwert von regionaler Identität im gesamten Geflecht institutional und kulturell vermittelter Bindungen, vor dessen Hintergrund sich das ethnische oder kulturelle Sonderbewußtsein regionaler Akteure und das Konfliktverhalten regionalistischer Bewegungen in den 60er Jahren erst ausgeformt haben.
Das sozialwissenschaftlich Interessante an diesen Bewegungen sind die Prozesse, in denen Regionalbewußtsein für kulturelle, soziale oder politische Handlungsfelder aktiviert oder reaktiviert wird, die vorher durch andere Bindungen und Bezüge dominiert waren.
Die Kontexte, die Dynamik, die institutionelle Resonanz und die Programmatik dieser (Re)Aktivierung von Regionalbewußtsein als Bezugsrahmen territorialer Politik sind dabei von Region zu Region differenziert zu verorten. Lassen Sie mich auch hierzu einige Hinweise geben.
2.2.1 Kontextbedingungen regionalistischer Mobilisierung
Für die Analyse der Kontextbedingungen regionaler Interessenartikulation und regionalistischer Mobilisierung sind, wie neuerdings auch in regulationstheoretischer Perspektive herausgearbeitet wird (vgl. Krätke 2000), insbesondere die regionsspezifischen Funktionsmechanismen der kulturellen, politisch-administrativen und ökonomischen Integration der jeweiligen Regionen in nationale/transnationale Strukturen von Interesse.
Systematische Vergleiche dieser Funktionsmechanismen liegen bisher nicht vor, obwohl eine Auswertung vorhandener Fallstudien hierfür hinreichendes Material bieten würde. Als vorläufige Variablenauswahl lassen sich jedoch die folgenden kritischen Kontextbedingungen regionalistischer Mobilisierungsprozesse katalogisieren (vgl. auch Coakley 1992):
1. Die Intensität der Einbindung und Kontrolle regionaler Bevölkerungsgruppen in „versäulte“, d.h. voneinander isolierte und zentral kontrollierte Kanäle gesamtstaatlicher Interessenvermittlung und Steuerung.
2. Die Intensität der lebensweltlichen Verankerung der mit diesen Formen systemischer Interessenvermittlung und Steuerung korrespondierenden gesamtstaatlichen Identifikationen, Realitätsinterpretationen oder ideological packages (Klandermans 1981: 30ff).
3. Die Existenz regionaler Kristallisationskerne intellektuellen und kulturellen Eigenlebens, das Ausmaß ihrer Institutionalisierung, ihrer Präsenz in regionalen Kommunikationsmedien und ihrer subkulturellen Isolation oder zivilgesellschaftlichen Verankerung und Ausstrahlung auf regionaler Ebene (Bassand 1993: 186ff).
4. Das Ausmaß der Durchdringung und Kontrolle regionalwirtschaftlicher Aktivitäten durch regionsexterne Wirtschaftsinteressen bzw. interregionale Verflechtungen oder Abhängigkeiten einerseits, ihrer endogenen Innovations- und überregionalen Konkurrenzfähigkeit andererseits.
5. Die Flexibilität der etablierten Kanäle regionaler Interessenvermittlung und der regionalen Instanzen des politisch-administrativen Systems in der Verarbeitung von oder zumindest symbolischen (Edelman 1976) Anpassung an neue(n) regionalgesellschaftliche(n) Problemlagen und Konfliktkonstellationen.
Dieser Katalog ließe sich weiter ausdifferenzieren und durch jeweilige zeitgeschichtliche Kontextfaktoren (v. Krosigk 1980) ergänzen. Erklärungen zur Entstehung und Entwicklungsdynamik regionaler Interessenartikulation und regionalistischer Bewegungen sind aus diesen Variablen aber ebensowenig abzuleiten wie aus den Theoremen der Ethnizität oder des internen Kolonialismus.
Die Kontingenz von Mobilisierungsprozessen macht immer wieder deutlich, daß es – um Hooghe zu zitieren -
„keine spezifische Konstellation sozialer Faktoren gibt, die einen spezifischen Pfad für eine nationalistische Bewegung vorherbestimmt. Eine spezifische Konstellation sozialer Faktoren definiert zwar, was für die Akteure möglich ist, aber es sind die Entscheidungen, der Machtkampf und die Strategien dieser Akteure, die das Ergebnis bestimmen, und die Konstellation sozialer Faktoren verändert sich entsprechend im Zeitablauf.“ (Hooghe 1992: 37; Übers.: D. G.)
2.2.2 Entwicklungsdynamik regionalistischer Bewegungen
In der Bewegungsforschung wurde wiederholt versucht, den vermuteten Regelmäßigkeiten in der Entwicklungsdynamik sozialer Bewegungen nicht nur durch eine Analyse externer Kontextbedingungen, sondern auch interaktiver oder eigendynamischer Reproduktionsprozesse von Bewegungen auf die Spur zu kommen (Rucht 1994: 91ff, Bender 1997).
Otthein Rammstedt (1978: 132, 170) unterscheidet in seinem linearen Entwicklungsmodell acht Stufen der Selbstentfaltung und Konsolidierung sozialer Bewegungen, benennt aber auf jeder dieser Stufen Alternativen der Stagnation und Nichtentfaltung. Ergänzt durch Rückkopplungsschleifen ließe sich dieser Ansatz aber auch als ein dynamisches Spiralmodell von Latenz und erneuerter Militanz sozialer Bewegungen interpretieren.
Rammstedts Stufenabfolge ist kein determinierter Prozeß, sondern mögliches Ergebnis von Interaktionssequenzen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, denen in dieser Abfolge allerdings ein hochgradig unflexibles und restringiertes Handlungsrepertoire zugeschrieben werden muß.
Für die Analyse regionalistischer Bewegungen liegen bisher nur wenige nicht-deterministische Prozeßmodelle vor (Gerdes 1985: 44; Colin H. Williams 1997: 117 f). Gemeinsam ist diesen Modellen die Betonung (re)strukturierender Konfliktereignisse für die Bestimmung der Entwicklungsdynamik regionaler Interessenartikulation - eine Hervorhebung, die aus der Perspektive des akteurzentrierten Institutionalismus auch bei Mayntz/Scharpf (1995: 59, 66) zu finden ist.
Ausgangspunkt ist hier die Unterscheidung zwischen einem systemkonformen Protest und systemkritischer sozialer Bewegung. Regionalistischer Protest bleibt im Sinne von Rammstedt zunächst an die jeweiligen Spielregeln fragmentierter zentralstaatlicher Regelungsstrukturen und Interaktionskonstellationen gebunden (vgl. Schimank/Wasem 1995: 197). Regionalistischen Bewegungen gelingt es dagegen, die normative Einbindung der Akteure in diese Regelungsstrukturen aufzubrechen und eine generalisierte Distanz zwischen (zentral)staatlichen Akteuren und regionalgesellschaftlichen Akteuren aufzubauen (framing).
Die Kumulation, kommunikative Vernetzung und normative Generalisierung des regionalistischen Protestes im Prozeß der Herausbildung einer regionalistischen Bewegung entwertet sukzessive die vorher geltenden Handlungsorientierungen und Spielregeln in den bestehenden zentralstaatlichen Regelungsstrukturen, ggf. bis zu deren Zerfall und/oder deren Neustrukturierung.
Zentral für diese Generalisierung des Protests scheinen also konfliktive Ereignisse zu sein, deren Kumulation kollektive Uminterpretationen herrschender Realitätsdeutungen herausfordern, diese stabilisieren oder eben auch scheitern lassen.
Stabilität gewinnt die soziale Konstruktion einer "ereignishaften Differenz zum Bisherigen" (Bender 1997: 178, 75ff) allerdings nur dann, wenn sie wieder in konkrete Handlungsorientierungen und veränderte oder neue Akteurkonstellationen rücküberführt werden kann. Dieses Kleinarbeiten setzt eine Rationalisierung der Differenz zu Lasten ihrer expressiven, mobilisierenden Komponenten voraus, die für die institutionelle Resonanz regionalistischer Bewegungen entscheidend ist.
2.2.3 Oppositionelle Programmatik und institutionelle Resonanz regionalistischer Bewegungen
Adressaten wie Analytiker moderner Interessengruppenpolitik setzen auf die Berechenbarkeit einer rationalen Artikulation gesellschaftlicher Interessen, Werte, Normen, Handlungsorientierungen und (situativer) Handlungsmotive (Mayntz/Scharpf 1995: 52ff).
Gesucht wird so auch bei regionalistischen Bewegungen zunächst nach dem rationalen Kern ihrer Anschlußfähigkeit an geltende Rationalitätsstandards und Handlungsorientierungen. Die Optionen, diesem Druck zugunsten von Wirksamkeit nachzugeben, sind begrenzt. Sie liegen in der kreativen Aneignung eingeführter Organisationsformen (z.B. Parteien oder Verbänden) und normativer (z.B. „ethnischer“) Symbolisierungen.
Als einer der kritischen Kontextfaktoren wurde oben das Ausmaß der Provinzialisierung regionaler Sinnprovinzen (Schütz), hier verstanden als subkulturelle Isolation regionaler differentiae (Gellner) und deren Unterordnung unter dominante gesamtstaatliche Handlungsorientierungen (vgl. 2.2.1), genannt. Dieser Faktor scheint nun einen bestimmenden Einfluß darauf zu haben, wo sich in der Spannweite zwischen einem defensiven, spontan-situativen Basisprotest einerseits und einer programmatisch durchstrukturierten wie formal organisierten offensiven Interessenartikulation andererseits das Gravitationszentrum regionalistischer Bewegungen einpendelt.
Für die Bestimmung dieses Kontextfaktors der subkulturellen Isolation oder zivilgesellschaftlichen Resonanz und Verankerung (Keating 1997: 102ff) regionaler differentiae ist eine genauere Analyse der Bezugsgruppen (Rucht 1994: 480f) regionalistischen Protestes und regionalistischer Mobilisierung hilfreich.
Michel Bassand unterscheidet hier als Ergebnis langjähriger Feldforschungen und vergleichender Analysen fünf Einstellungstypen, die sich in der Konfrontation mit regionalen Themen herauskristallisieren (Bassand 1993: 187f):
· Apathische und resignierte Regionalbewohner ohne jede Beziehung zur oder Bindung an die Region. Apathie als Phänomen kultureller Entfremdung ist gerade in Randregionen häufig anzutreffen.
· Die potentiellen Emigranten. Sie schauen mit kritischer, wenn nicht sogar verachtender Distanz auf das soziale, kulturelle und politische Leben der Region ("Provinz"!).
· Die Modernisierer der Region, die sich voll (und meistens in führenden Positionen) in das soziale, ökonomische und politische Leben integrieren, sich dabei aber bewußt von den eigenständigen Lebensformen ihrer Region distanzieren. Demgegenüber zeigen sie eine fast kritiklose Offenheit gegenüber allen Neuerungen der Metropolen, zu denen sie intensive Kontakte pflegen. Sie waren und sind die provinziellen Partner herkömmlicher Regionalpolitik "von oben".
· Die Traditionalisten identifizieren sich in teilweise militanter Form mit der Geschichte, Sprache, Kultur oder den Traditionen der Region. Von daher versuchen sie, in möglichst vielen Lebensbereichen externe Einflüsse abzuwehren oder vergangene Zustände wiederherzustellen.
· Die Regionalisten sehen, wie die Modernisierer, die Aufgabe der Entwicklung ihrer Region als zentral an, jedoch „nicht um jeden Preis und mit allen Mitteln“. Die naturräumlichen, historischen und kulturellen Besonderheiten der Region sind für sie positive Werte und der Ausgangspunkt jeder Regionalentwicklung. Modernisierung gewinnt somit ein regionales Profil, mit dem sich die Bewohner der Region identifizieren können und das die Region für Außenstehende unverwechselbar macht.
In den Arenen (Rucht 1994: 481) der regionalistischen Konflikte der 60er und 70er Jahre stießen nun aber nicht, wie das Ethnizitäts-Theorem vermuten ließe, die wohlgeordneten Kohorten von Traditionalisten und Modernisierern aufeinander, sondern eine komplexe Gemengelage sich neuformierender staatlicher und gesellschaftlicher Akteurkonstellationen.
Diese Akteurkonstellationen waren zunächst überwiegend Zerfallsprodukte einer intensivierten regionalen Struktur- und Wirtschaftspolitik, die eine gezielte Mobilisierung brachliegender Wachstumspotentiale zu betreiben versuchte, sich vor Ort aber oft genug in eine Bedrohung oder Zerstörung bestehender regionaler Sozialstrukturen und der dort geweckten Fortschrittserwartungen verwandelte (Keating 1997: 78ff).
Enttäuschte Fraktionen regionaler Modernisierungseliten, syndikalistisch orientierte Vertreter bedrohter regionaler Wirtschaftssektoren, traditionale Klientel-Politiker und blockierte Emigrationswillige wurden so die wichtigsten Bezugsgruppen des regionalistischen Protestes der 60er und 70er Jahre, die sich zu regional sehr unterschiedlichen Koalitionen formierten (vgl. auch Hooghe 1992: 37).
Regionalistischer Protest zielte auf die negativen Folgewirkungen zentralstaatlicher Eingriffe und Steuerungsansprüche. Diese politische Stoßrichtung war eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Ausstrahlung regionalistischer Programmatik in die bestehenden regionalen Verbands- und Parteistrukturen.
Die Differenzierung in autonomistische, föderalistische und separatistische Positionen dieses politischen Regionalismus (Gerdes 1985: 66ff) orientierte sich an den programmatischen Ziel- und Selbstdarstellungen regionalistischer Gruppierungen, Organisationen und Parteien, die als Kerngruppen der Mobilisierungsstruktur (Rucht 1994: 480) der einzelnen regionalistischen Bewegungen in Erscheinung getreten sind.
Die Koalitionsfähigkeit des Autonomismus mit einem breiten Spektrum weiterer alternativer Handlungsorientierungen und Wertesysteme ist wohl der Grund dafür, daß dieser die normativen Orientierungen von Regionalentwicklung bis heute maßgebend prägt - nicht mehr als Alternative zur, sondern als Bestandteil von staatlicher und (mehr noch) europäischer Regionalpolitik.
3. Perspektiven der „Politik der dritten Ebene“
Es gehört zu den historischen Leistungen regionalistischer Bewegungen der 60er und 70er Jahre, daß es ihnen paradigmatisch gelungen ist,
· gegenüber einer fachpolitischen Integration und Kanalisierung regionaler Sonderprobleme in jeweils zentral gesteuerte Politikfelder eine territorialisierte Querschnittspolitik einzufordern, die hinter den sektoralisierten Sonderproblemen grundsätzliche Ordnungsprobleme staatlicher Steuerung sichtbar machte;
· die Raumopfer (Naschold 1978: 54ff) einer zentralisierten regionalen Modernisierungspolitik aus ihren exklusiven Bindungen an gesamtstaatlich versäulte Verbände zu lösen und regional zusammenzuführen, und
· der hegemonialen Provinzialisierung ökonomisch, kulturell und/oder politisch peripherer Regionen die Perspektiven einer eigenständigen Regionalentwicklung auf der Grundlage einer Aufwertung des kulturellen Eigen-Sinns und des Eigenwerts regionaler endogener Potentiale entgegenzusetzen.
3.1 Die Regionalisierung einer integrierten Regionalentwicklung
Die Aufnahme des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) in das Vertragswerk der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986, die faktische Zusammenlegung des Regionalentwicklungsfonds mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Agrarfonds (EAGFL) sowie die drastische Erhöhung der hierfür seit 1988 eingesetzten Mittel waren Signale für eine grundlegende Umorientierung der Regionalpolitik hin zu einer integrierten Regionalentwicklungspolitik, die 1993 in Maastricht bestätigt wurde.
Auslöser dieser Umorientierung der europäischen Regionalpolitik waren Koordinations-, Effizienz- und Informationsprobleme, die eine Abstimmung raumwirksamer strukturpolitischer Interventionen schon aus Gründen des rationalen Mitteleinsatzes nahelegten. Darüberhinaus reagierte die Kommission aber auch auf die grundsätzliche Kritik, die in den 70er und 80er Jahren (und bis heute: Dunford 1997) an der mangelnden Ausgleichswirksamkeit herkömmlicher Regionalpolitik geübt worden war. Gewerkschaftliche Vorschläge für eine beschäftigungspolitisch orientierte Regionalpolitik (z.B. Fricke et al. (Hg.) 1986) und wissenschaftliche Vorschläge für eine bessere Koordination von Raumordnungspolitik und Sektoralpolitiken (z.B. Ellwein/Bruder 1982) kulminierten in alternativen Entwürfen einer eigenständigen Regionalentwicklung (z.B. Bassand et. al. (Hg.) 1986), die gleichermaßen von dependenztheoretischen Analysen des Nord-Süd-Konflikts wie vom regionalistischen Theorem des internen Kolonialismus inspiriert waren (Nohlen/Schultze (Hg.) 1985).
Hiermit rückten grundsätzliche Fragen nach Inhalten, Wirkungsmechanismen und Legitimation einer zentral gesteuerten Regionalpolitik in den Vordergrund, denen man auf europäischer Ebene durch eine stärkere Orientierung an den artikulierten Entwicklungsbedürfnissen der Regionen begegnete. Das Ende 1988 formulierte Prinzip derPartnerschaft verpflichtete regionale Akteure, im Dialog mit der Kommission eigenständige, auf die spezifischen regionalen Gegebenheiten abgestimmte Entwicklungsprojekte zu formulieren. Hier zeichneten sich modellhaft die Konturen einer integrierten Regionalentwicklung ab, in der die Ausgestaltung einzelner Politikbereiche einer regionalenLeitbildformulierung unterschiedlicher Entwicklungsvorstellungen untergeordnet werden sollte.
"EC regional policy was a form of regionalization but, since the 1988 reforms and the introduction of the principle of partnership, an element of regionalism has entered into it."(Keating/Loughlin 1997: 5)
3.2 Institutionelle Schwächen der Regionalisierung
Die Reform der europäischen Regionalpolitik hat zweifellos die Neuformierung regionaler Akteurkonstellationen befördert. Ihnen fehlt aber trotz aller Dezentralisierungsprozesse bis heute eine kongruente Stabilisierung durch institutionelle Reformen (Keating/Loughlin 1997: 12).
Die wirtschaftsstatistisch generierten Regionen der europäischen Regionalentwicklungspolitik korrespondieren nur selten mit den nationalstaatlichen Dezentralisierungs- oder Regionalisierungsmustern. Die politische Programmvokabel vom "Europa der Regionen" zielt auf die Stärkung der regionalen Ebene unmittelbar unterhalb der nationalstaatlichen Regierungsebene, während sich die europäische Regionalentwicklungspolitik logisch von der kommunalen Gebietskörperschaftsebene her aufbaut. Ebensowenig korrespondiert der institutionelle Zuschnitt der subnationalen Regionen mit den Programmregionen staatlicher Regionalpolitik. Hier sind, wie in Frankreich, regionsübergreifende Programmregionen ebenso üblich wie gestaffelte Regionalisierungen unterhalb der subnationalen Ebene, wie z.B. in der Bundesrepublik (Regionalkonferenzen).
Realistischerweise räumen Keating und Loughlin ein, daß eine neue territoriale Hierarchie nicht in Sicht sei, sondern eher eine variable Geometrie unterschiedlichster institutioneller Arrangements und Formen regionaler Mobilisierung (Keating/Loughlin) 1997: 12). In der deutschsprachigen Literatur hat sich hierfür der Terminus Mehrebenenpolitik eingebürgert; in der politischen Praxis insbesondere auf der NUTS III-Ebene wird dieses Phänomen eher als Regionalisierungschaos wahrgenommen, in dem eine Konsolidierung stabiler Akteurkonstellationen unmöglich erscheint.
3.3 Region als zivilgesellschaftliches Projekt
Die Nicht-Kongruenz politisch-administrativer, wirtschaftsstruktureller und soziokultureller Komponenten von Regionsbildung (Heinze et al. 1997: 329) ist heute die Regel, nicht die Ausnahme. Partielle, staatlich moderierte und projektorientierte Kooperationsnetzwerke konstituieren noch kein Steuerungssubjekt von Regionalentwicklung, solange das Nebeneinander und die Überschneidung von Netzwerken unterschiedlichster Reichweite die Verstetigung kollektiver Kooperations- und Handlungslogiken verhindert.
Keatings Hinweis auf die notwendige zivilgesellschaftliche Fundierung von Regionsbildung macht darauf aufmerksam, daß Territorialität als "bloßes Set von Austauschbeziehungen (...) eine ganze Reihe ungelöster Probleme kollektiven Handelns" (Keating 1997: 103) offen läßt. Erst eine "vernunft- und erfahrungsbegründete Form territorialer Identität kann den sozialen Zusammenhalt ermöglichen, der nötig ist, um unterschiedliche individuelle und kollektive Rationalitäten zu überbrücken." (103). Territoriale Identität wird dabei nicht kurzschlüssig mit den traditionalen Vorstellungen "gefühlsmäßiger Gemeinschaftsbindungen" gleichgesetzt, sondern als "strukturierte Muster von Kooperation und Austausch" (102) beschrieben, wobei deren Wurzeln in "historischen Erfahrungen und gemeinsamen Sozialisationen" (103) liegen.
Keatings zivilgesellschaftliche Fassung des Regionsbegriffs beschreibt bis heute eine minoritäre Position im Konzert aktueller regelungstheoretischer Netzwerk- und cluster-Euphemismen. Gestützt wird seine Position durch die paradigmatische Ausstrahlung des westeuropäischen Regionalismus, der auch die eingangs zitierte Regionalisierungscharta des Europäischen Parlaments prägte. Überschneidungen mit der Kommunitarismus-Debatte (z.B. Etzioni 1997) sind unübersehbar.
Differenzierte empirische Untersuchungen zu den soziokulturellen Aspekten von Regionalentwicklung wurden schon in den 80er Jahren vorgelegt (vgl. Danielzyk/Krüger 1990: 21ff). Entsprechende Nachweise eines Zusammenhangs zwischen politisch-administrativen sowie wirtschaftsstrukturellen Konstellationen einerseits und soziokulturellen Faktoren andererseits finden sich in einer Vielzahl von Fallstudien (z.B. Bassand 1993), die inzwischen zu einem regulationstheoretisch inspirierten Forschungsprogramm kumuliert sind (vgl. Krätke 2000). Unterstellt wird dieser Zusammenhang auch in der Orientierung europäischer Regionalentwicklungsprogramme auf community development, human resource development oder environmental improvement (Bachtler 1997: 83) – Förderkonzepte, in denen sich das regionale „Sozialkapital“ soziokultureller Faktoren von Lebensqualität und kollektiven Wertorientierungen mit politischen und wirtschaftlichen Mobilisierungsfaktoren konzeptionell verbinden soll.
Normativ schließt das Leitbild nachhaltiger Entwicklung der Agenda 21 an dieses kulturorientierte Verständnis von integrierter Regionalentwicklung an (Danielzyk et al. (Hg.) 1998).
Kommunikations- und handlungstheoretische Plausibilität gewinnt ein modernisiertes regionalistisches Verständnis von Regionsbildung, wenn man diese als einen
"gesellschaftliche(n) und politische(n) Verständigungsprozeß (versteht), in dem es um Konsensbildung über Ziele und Wege einer möglichst eigenständigen, integrierten und regionsverträglichen Modernisierung geht. Erleichtert wird diese Konsensbildung durch die Gemeinsamkeit von Lebensgewohnheiten und Hintergrundüberzeugungen, über die sich die Akteure einer Region nicht jeweils neu verständigen müssen. Regionale Identität aktualisiert sich im gemeinsamen Handeln vor dem Hintergrund eines historisch-kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls." (Gerdes 1995: 133f).
4. Fazit
Bis Regionsbildung in diesem Sinne zu einem zivilgesellschaftlichen Projekt werden kann, sind weitere konzeptionelle und politische Anstrengungen erforderlich. Die halbierte Rationalität des Maastrichter Subsidiaritätsprinzips bedarf hier - auch mit Rückgriff auf integralföderalistische Positionen - einer Ergänzung durch eine konsequente Regionalisierungspolitik, die den „Paradoxien“ (Vincent Wright 1997: 52ff) der sogenannten „Mehrebenenpolitik“ und dem gegenwärtigen Regionalisierungschaos entgegenwirkt.
Die Perspektiven der „Politik der dritten Ebene“ verlieren sich im patchwork des Konferenzregionalismus der europäischen und nationalen Fördertöpfe. Von Regionen als „kollektiven Akteuren“ sind wir weiter entfernt denn je.
Literatur:
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